Arkadien 02 - Arkadien brennt
Sie wusste, dass es ein Sohn geworden wäre, hatte es einfach gespürt. Sie hatte lange gewartet, bis zum dritten Monat, ehe sie dem Drängen ihrer Mutter und den Empfehlungen der Ärztinnen nachgegeben hatte. Der Eingriff war unter Vollnarkose durchgeführt worden, alles Routine, hatte die Ärztin gesagt. Für sie vielleicht.
Schneematsch spritzte auf den Gehweg. Auf der anderen Straßenseite war ein weiß gestrichenes Fahrrad an einen Laternenpfahl gekettet, eines der zahllosen ghost bikes in New York, die zur Erinnerung an überfahrene Radfahrer aufgestellt wurden. Rosa stand vor dem Laden, jetzt mit weichen Knien, und starrte auf den Tacker, als hielte er die Antworten bereit, denen sie monatelang aus dem Weg gegangen war. Vielleicht war es falsch gewesen, zurückzukommen, und sie hatte noch nicht genug Abstand gewonnen. Die Konfrontation mit ihrer Mutter würde es nicht besser machen. Das klärende Gespräch. Als wäre da noch irgendwas zu klären.
Sie ging bis zur Union Square Station an der 14. Straße, zögerte vor der Treppe und lief weiter bis zum nächsten Subway-Zugang auf einer Verkehrsinsel am Astor Place. Auch hier brachte sie es nicht über sich, zu den Gleisen hinabzugehen. Stattdessen setzte sie ihren Weg fort bis Broadway/Lafayette; dort hätte sie ohnehin umsteigen müssen.
Unterwegs aber entschied sie, dass es lächerlich war, die Begegnung länger hinauszuzögern. Nach dem Fußmarsch durch die Kälte fiel ihr immerhin ein, dass sie heute nicht mehr auf jeden Dollar achten musste. Sie hielt ein Taxi an und fuhr über die Brooklyn Bridge in Richtung Crown Heights.
Vor dem Haus, in dem sie aufgewachsen war, stieg sie aus dem Wagen und forschte in sich nach einem Gefühl von Heimkehr, wenigstens Vertrautheit. Nichts. Sie hatte schon einmal solch eine Leere gespürt, bei ihrer Ankunft auf Sizilien im vergangenen Oktober. Jetzt fragte sie sich, wo denn nun eigentlich ihr Zuhause war. Ihre Hand kroch in die Tasche und berührte die Fabeln des Äsop .
Die Reifen des Taxis ließen schmutzigen Schneematsch aufspritzen. Rosa stand auf dem Bürgersteig und starrte die acht Stufen bis zur Haustür hinauf. Das Gebäude hatte nur drei Stockwerke, reichte aber in der Tiefe bis zur nächsten Straße. Unterhalb des Flachdachs gab es einen ausgebleichten Brandfleck, ein Überbleibsel der Unruhen während des großen Stromausfalls von 77. In den Jahrzehnten, die seither vergangen waren, hatte es der Vermieter nicht für nötig gehalten, ein paar Dollar in Fassadenfarbe zu investieren.
Die Vorhänge der Wohnung waren geöffnet, alle Scheiben gründlich geputzt. Ein Strauß frischer Blumen leuchtete in einem Fenster; Gemma musste den Platz ausgesucht haben, weil dort für die längste Zeit die Sonne hereinfiel. Der Station Wagon der Petersons parkte wie eh und je direkt vor der Tür des Souterrain-Apartments, gleich neben dem Treppenaufgang. Falls Mister Piccirilli in der Zwischenzeit nicht an seinem billigen Bourbon erstickt war, würde das den üblichen Ärger geben.
Wenn sie das Haus noch weiter anstarrte, würde sie vor lauter kuscheliger Nostalgie in Tränen ausbrechen.
Es waren nur wenige Schritte bis zur Tür und zu den Klingeln. Sie hatte keinen Schlüssel mitgenommen, als sie nach Italien abgereist war. Jetzt fühlte es sich an, als wäre sie nicht vier Monate, sondern vierzig Jahre fort gewesen. Erst das machte ihr begreiflich, wie endgültig sie mit alldem hier abgeschlossen hatte.
Bei dem Gedanken, die Stufen hinaufzusteigen, wurde ihr speiübel. Wahrscheinlich war ihre Mutter ohnehin nicht da, sie hatte sicher noch diesen Job in Bristen’s Eatery und den zweiten in der Wäscherei. Nachts kochte sie manchmal Glasnudeln in einem chinesischen Take-away, zwei Ecken weiter, dann nahm sie sich den nächsten Tag frei. Vielleicht war sie also doch da. Was es nur schlimmer machte, dass Rosa weithin sichtbar auf dem Bürgersteig stand wie festgefroren.
Wie hätte sie sich entschieden, wenn ihre Mutter ihr geraten hätte, das Kind zu behalten? Hätte Rosa Nathaniel zur Welt gebracht? Und was dann? Sie würde noch immer hier leben, nachts Mister Piccirillis Schnarchen durch die Bodendielen hören, einem plärrenden Säugling die Brust geben und versuchen, irgendwie über die Runden zu kommen.
Sie musste hier weg. Auf der Stelle.
Hatte Gemma nicht Recht behalten, als sie gesagt hatte, Rosa täte sich keinen Gefallen, wenn sie mit siebzehn ein Kind bekäme? Hatte Rosa nicht genug mit sich selbst zu tun?
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