Arkadien 02 - Arkadien brennt
Blick nicht aus, aber sie sah ihm an, dass er es gern getan hätte. »Ich hab überlegt, wie ich es dir sagen soll. Und wann der beste Zeitpunkt dafür wäre. Aber es gibt keinen richtigen Moment, um zu sagen: Übrigens, das Schwein, das dich vergewaltigt hat, war mein Cousin.«
Sie streckte die Hand aus und berührte sachte seine Wange, strich über die stoppelige Haut. »Jetzt kommt Michele einfach damit davon.«
»Michele wird noch bereuen, dass er dir jemals begegnet ist«, widersprach er. »Und Tano ist tot.«
»Aber nicht deshalb «, sagte sie, »sondern nur weil er es ein zweites Mal tun wollte. Weil er ein perverses Arschloch war …« Das wäre der Zeitpunkt gewesen, um zu zetern und zu schreien oder sonst irgendetwas Dramatisches. Aber ihr war nach nichts von alldem zu Mute. Sie erinnerte sich noch immer nicht an irgendwelche Bilder jener Nacht, nicht einmal an Schmerz – die Stunden waren wie ausgelöscht. Nun jedoch fragte sie sich, ob der Blackout in Wirklichkeit nicht Blindheit war. Schwäche. Ein Makel.
»Tano ist tot«, wiederholte sie seine Worte. »Ich kann mir nicht mal mehr wünschen, dass er sterben soll. Oder leiden. Er war tot, bevor er überhaupt mitbekommen hat, was mit ihm passiert. Und vielleicht findest du es schrecklich, wenn ich das sage, aber ich hätte mir gewünscht, dass es lange dauert und wehtut. Verdammt wehtut. Weil er es verdient hat. Weil er selbst in seinem Scheißgrab noch immer jeden Schmerz verdient hat, den ich mir vorstellen kann.«
Er schloss für einen Moment die Augen. »Da ist noch was. Ich weiß nicht, ob das etwas ändert, aber …« Ein kurzes Zögern.
Fragend sah sie ihn an, während er nach Worten suchte.
»Michele war dabei, aber er hat dich nicht vergewaltigt. Jedenfalls behauptet das mein Spitzel. Sie waren zu viert, und Michele hat mit Sicherheit das Maul am weitesten aufgerissen und allen anderen gesagt, was sie zu tun haben. Aber angefasst hat dich nur Tano.«
»Es ist gleichgültig, wer nur zugeschaut und wer selbst –« Sie verstummte, als sie begriff, worauf er hinauswollte. »Tano ist Nathaniels Vater«, flüsterte sie tonlos.
Alessandro sagte nichts. Sah sie nur an. Sie war ihm dankbar dafür. Mitleid war das Letzte, was sie wollte.
Benommen schüttelte sie den Kopf. »Am Ende macht es keinen Unterschied.«
»Michele wird dafür büßen – für alles.« Sie spürte seinen Blick so heiß wie seine Hände, als er nach ihren Fingern griff.
»Ich will dich nicht auch noch verlieren«, sagte sie. »Das ist die Rache nicht wert. Ganz sicher ist sie das nicht.«
»Sollen wir etwa so tun, als wäre nichts geschehen?«
»Nein.« Sie lehnte sich gegen die Reling und zog ihn näher heran. »Dieses Mädchen, ihr Name war Jessy … Er hat sie im Maul getragen wie eine Trophäe. Darum ging es ihm. Zu beweisen, wer er ist und wozu er fähig ist. Deshalb veranstaltet er diese Jagden. Und dafür hat er den Tod verdient.«
»Er ist ein blutrünstiger Bastard. Tano hat ihn angebetet.«
Sie spürte die Kälte der Reling in ihrem Rücken, aber in ihr war alles wie taub. »Was hast du noch herausgefunden?«
»Die Sache mit Micheles Bruder und den anderen – das ist die Wahrheit. Irgendwer tötet die Carnevares in Micheles engstem Kreis und mir wäre wohler, wenn ich wüsste, wer und warum.«
»Er verdächtigt dich.«
Alessandro lächelte grimmig. »Mich.«
»Du weißt, was er getan hat. Und er weiß von uns beiden. Wenn er dich auch nur ein wenig kennt, dann muss ihm klar sein, dass du keine Ruhe geben wirst.«
Er neigte den Kopf, und sie bemerkte die Überraschung in seinen leuchtenden Raubtieraugen. »Glaubst du das? Dass ich schon begonnen habe, Rache an ihm zu nehmen? Dass ich gerade dabei bin, seine Familie auszulöschen?«
»Nicht, wenn du mir sagst, dass es nicht so ist.«
Er schwieg lange. »Damit hab ich nichts zu tun«, sagte er schließlich.
Da war sie es, die lächelte, und sie hatte sich niemals so sehr wie eine Alcantara gefühlt.
»Schade«, flüsterte sie, und als sie ihn küsste, spürte sie sein Frösteln.
Fundlings Schlaf
N eben dem Bett des Schlafenden stand ein Arsenal lebenserhaltender Apparate, aber die meisten waren nicht in Betrieb. Fundling atmete aus eigener Kraft, nur Nahrung musste ihm künstlich durch eine Magensonde zugeführt werden. Sein Gesicht war bleich und eingefallen. Das dichte schwarze Haar war seit der Schädeloperation nachgewachsen, aber noch nicht so lang wie damals, als er Fahrer der
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