Arm und Reich
Tages die europäischen Eindringlinge abzuwehren.
Ein zweiter Faktor, der die Bevölkerungsgröße der Hochlandbewohner beschränkte, war die Knappheit der Anbauflächen: Im Hochland von Neuguinea gibt es nur wenige breite, zur dichten Besiedlung geeignete Täler, insbesondere das Wahgi- und das Baliemtal. Eine dritte Beschränkung lag darin, daß nur mittlere Höhenlagen zwischen 1200 und 2700 Metern für eine intensive landwirtschaftliche Nutzung in Frage kamen. Oberhalb von 2700 Metern wurde in Neuguinea überhaupt keine Landwirtschaft getrieben, auf Hangflächen zwischen 300 und 1200 Metern nur in begrenztem Umfang und im Tiefland lediglich in Form von Brandrodungsfeldbau. Ein intensiver Austausch landwirtschaftlicher Erzeugnisse zwischen Gruppen, die sich in verschiedenen Höhenlagen auf unterschiedliche Arten der Nahrungsmittelproduktion spezialisierten, konnte deshalb in Neuguinea nicht entstehen. In den Anden, den Alpen und im Himalaja führte ein solcher Austausch dagegen nicht nur zur Erhöhung der Bevölkerungsdichte, indem die Bewohner aller Höhenlagen mit einer ausgewogeneren Kost versorgt wurden, sondern er förderte auch die wirtschaftliche und politische Integration der jeweiligen Region.
Aus all diesen Gründen stieg die Bevölkerung des traditionellen Neuguinea nie über eine Million, bevor die europäischen Kolonialherren westliche Medizin ins Land brachten und die Stammeskriege beendeten. Von den neun in Kapitel 4 aufgeführten Gebieten, in denen die Landwirtschaft unabhängig entstand, blieb Neuguinea mit Abstand das bevölkerungsärmste. Mit nur rund einer Million Einwohnern konnte Neuguinea unmöglich mit der Entwicklung von Technik, Schrift und politischen Systemen in China, Vorderasien, den Anden und Mesoamerika mithalten, wo viele Millionen Menschen lebten.
Neuguinea zählt aber nicht nur insgesamt wenig Einwohner, sondern darüber hinaus wird seine Bevölkerung durch das unwegsame Gelände in Tausende von Gruppen und Grüppchen zersplittert: Sümpfe bedecken einen Großteil des Tieflands, das Hochland ist von steilen Bergkämmen und engen Canons durchzogen, und fast die ganze Insel ist mit dichtem Urwald bekleidet. Wenn ich in Neuguinea biologische Feldforschung unternehme und mit einer Gruppe einheimischer Helfer durch den Dschungel ziehe, betrachte ich eine Tagesleistung von fünf Kilometern als hervorragend, selbst wenn wir auf vorhandenen Pfaden marschieren. Die meisten Bewohner traditioneller Dörfer im neuguineischen Hochland haben sich nie weiter als 15 Kilometer von ihrem Geburtsort entfernt.
Diese Unwegsamkeit in Verbindung mit häufigen Stammeskriegen, die für die Beziehungen zwischen neuguineischen Nomadenverbänden oder Dörfern kennzeichnend waren, erklären die sprachliche, kulturelle und politische Zersplitterung des traditionellen Neuguinea. Neuguinea weist mit Abstand die höchste Konzentration von Sprachen auf: Von den 6000 Sprachen der Welt werden hier, in einem Gebiet nur wenig größer als Texas, etwa 1000 gesprochen, untergliedert in Dutzende von Sprachfamilien und isolierte Einzelsprachen, die einander so wenig ähneln wie Englisch und Chinesisch. Fast die Hälfte der Sprachen Neuguineas haben weniger als 500 Sprecher, und selbst die größten Sprachgruppen (mit etwa 100 000 Sprechern) waren politisch in Hunderte von Dörfern zersplittert, die miteinander ebenso verfehdet waren wie mit Sprechern anderer Sprachen. Jede dieser Minigesellschaften war für sich genommen viel zu klein, um Häuptlinge und Spezialisten miternähren oder Metallverarbeitung und Schrift hervorbringen zu können.
Außer durch eine kleine, in unzählige Grüppchen gespaltene Bevölkerung wurde die Entwicklung in Neuguinea durch die geographische Isolation behindert, die den Zustrom neuer Techniken und Ideen von außen stark einschränkte. Von seinen drei Nachbarn war Neuguinea durch das Meer getrennt, und bis vor wenigen tausend Jahren waren alle drei in der technischen und landwirtschaftlichen Entwicklung noch weniger fortgeschritten als Neuguinea (und insbesondere das neugui neische Hochland). Von den Bewohnern dieser drei Nachbarregionen verharrten die australischen Aborigines auf der Stufe von Jägern und Sammlern, die den Neuguineern kaum etwas anzubieten hatten, was diese nicht schon besaßen. Bei dem zweiten Nachbarn handelte es sich um die wesentlich kleineren Inseln des Bismarck- und Salomonarchipels im Osten. Damit
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