Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Arm und Reich

Arm und Reich

Titel: Arm und Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
Vom Netzwerk:
»scheußlich, brutal und kurz« charakterisierte. Die tägli­che Nahrungssuche war offenbar sehr mühsam und der Hunger ein ständiger Begleiter, während so elementa­re materielle Annehmlichkeiten wie weiche Betten und richtige Kleidung fehlten. Hinzu kam eine niedrige Le­benserwartung.
    In Wirklichkeit bedeutet die Nahrungserzeugung da­gegen nur für die wohlhabenden Bewohner der Indu­strieländer, die mit ihr nicht unmittelbar zu tun haben, weniger körperliche Anstrengung, mehr Komfort, Si­cherheit vor Hunger und eine höhere Lebenserwartung. Das Los der meisten Kleinbauern und Viehzüchter, die heute die große Masse der Nahrungsproduzenten dar­stellen, ist dagegen nicht unbedingt besser als das von Jägern und Sammlern.
    Zeitbudgetstudien haben gezeigt, daß sie möglicher­weise mehr und nicht weniger Stunden pro Tag arbei­ten müssen als Jäger und Sammler. Archäologischen Un­tersuchungen zufolge waren die ersten Ackerbauern in vielen Regionen kleiner und schlechter ernährt als die von ihnen verdrängten Jäger und Sammler. Sie litten außerdem an gefährlicheren Krankheiten und starben im Durchschnitt früher. Hätten diese ersten Bauern die Konsequenzen der Einführung der Landwirtschaft ab­sehen können, so hätten sie sich vielleicht dagegen ent­schieden. Sie entschieden sich aber, ohne dieses Wissen zu haben, dafür. Warum?
    Es sind viele Fälle bekannt, in denen Jäger und Samm­ler, die von Bewohnern benachbarter Gebiete vor Augen geführt bekamen, was Landwirtschaft bedeutet, auf ihre vermeintlichen Segnungen verzichteten und lieber No­maden blieben. So trieben Aborigines im Nordosten Au­straliens jahrtausendelang Handel mit den bäuerlichen Inselbewohnern der zwischen Australien und Neugui­nea gelegenen Torresstraße. Kalifornische Indianer, die als Jäger und Sammler lebten, standen im Handelsaus­tausch mit bäuerlichen Indianergesellschaften des Colo­radotals. In Südafrika pflegten Khoi-Viehzüchter west­lich des Fish River rege Handelskontakte mit Bantu-Bau­ern östlich dieses Flusses, verzichteten aber selbst auf die Einführung des Ackerbaus. Warum?
    Wieder andere Jäger und Sammler, die Kontakt zu bäuerlichen Gesellschaften hatten, wurden zwar spä­ter selbst Bauern, aber erst nach einer, wie uns schei­nen mag, übermäßig langen Phase des Abwartens. Ein Beispiel sind die Küstenbewohner im heutigen Nord­deutschland, die erst 1300 Jahre nach Einführung der Landwirtschaft durch die Völker der bandkeramischen Kultur, die nur 200 Kilometer weiter südlich siedelten, zu Ackerbau und Viehzucht übergingen. Warum warteten die Küstengermanen so lange, und was führte schließ­lich zu ihrem Sinneswandel?
    Bevor wir diese Fragen beantworten können, müs­sen einige falsche Vorstellungen über die Anfänge der Landwirtschaft zurechtgerückt werden. Wir sollten auch unsere Wortwahl ändern. Was in Wirklichkeit ge­schah, war weder die Entdeckung der Landwirtschaft noch ihre Erfindung, wie man zunächst denken könn­te. Oft wurde nicht einmal eine bewußte Entscheidung zwischen Landwirtschaft auf der einen und Jagen und Sammeln auf der anderen Seite getroffen. Vor allem dort nicht, wo in den verschiedenen Regionen der Welt erstmals mit Ackerbau oder Viehzucht begonnen wur­de und die Bewohner mangels Anschauung gar nicht wissen konnten, worauf sie sich einließen. Wie wir se­hen werden, entwickelte sich die Landwirtschaft in ei­ner langsamen Evolution als Nebenprodukt von Ent­scheidungen, die ohne Kenntnis der weiteren Folgen getroffen wurden. Folglich müssen wir fragen, warum es zu dieser Evolution kam, warum sie an einigen Or­ten stattfand, an anderen jedoch nicht, warum die Zeit­punkte von Region zu Region so unterschiedlich waren und warum die Evolution der Landwirtschaft nicht viel früher oder später erfolgte.
    Ein weiterer Irrtum betrifft die zwangsläufig scharfe Abgrenzung zwischen nomadischen Jägern und Samm­lern und seßhaften Bauern. Obwohl wir häufig von ei­nem derartigen Gegensatzpaar ausgehen, wurden in Wirklichkeit Jäger und Sammler in vielen fruchtbaren Gebieten, so an der pazifischen Nordwestküste Norda­merikas und vermutlich auch im Südosten Australiens, seßhaft, ohne Landwirtschaft zu betreiben. Andere Jä­ger und Sammler in Palästina, an der Küste Perus und in Japan wurden erst seßhaft und taten den Schritt zur Landwirtschaft viel später. Auf seßhafte Gruppen ent­fiel vor 15 000 Jahren, als alle bewohnten Gegenden der Erde

Weitere Kostenlose Bücher