Arm und Reich
»scheußlich, brutal und kurz« charakterisierte. Die tägliche Nahrungssuche war offenbar sehr mühsam und der Hunger ein ständiger Begleiter, während so elementare materielle Annehmlichkeiten wie weiche Betten und richtige Kleidung fehlten. Hinzu kam eine niedrige Lebenserwartung.
In Wirklichkeit bedeutet die Nahrungserzeugung dagegen nur für die wohlhabenden Bewohner der Industrieländer, die mit ihr nicht unmittelbar zu tun haben, weniger körperliche Anstrengung, mehr Komfort, Sicherheit vor Hunger und eine höhere Lebenserwartung. Das Los der meisten Kleinbauern und Viehzüchter, die heute die große Masse der Nahrungsproduzenten darstellen, ist dagegen nicht unbedingt besser als das von Jägern und Sammlern.
Zeitbudgetstudien haben gezeigt, daß sie möglicherweise mehr und nicht weniger Stunden pro Tag arbeiten müssen als Jäger und Sammler. Archäologischen Untersuchungen zufolge waren die ersten Ackerbauern in vielen Regionen kleiner und schlechter ernährt als die von ihnen verdrängten Jäger und Sammler. Sie litten außerdem an gefährlicheren Krankheiten und starben im Durchschnitt früher. Hätten diese ersten Bauern die Konsequenzen der Einführung der Landwirtschaft absehen können, so hätten sie sich vielleicht dagegen entschieden. Sie entschieden sich aber, ohne dieses Wissen zu haben, dafür. Warum?
Es sind viele Fälle bekannt, in denen Jäger und Sammler, die von Bewohnern benachbarter Gebiete vor Augen geführt bekamen, was Landwirtschaft bedeutet, auf ihre vermeintlichen Segnungen verzichteten und lieber Nomaden blieben. So trieben Aborigines im Nordosten Australiens jahrtausendelang Handel mit den bäuerlichen Inselbewohnern der zwischen Australien und Neuguinea gelegenen Torresstraße. Kalifornische Indianer, die als Jäger und Sammler lebten, standen im Handelsaustausch mit bäuerlichen Indianergesellschaften des Coloradotals. In Südafrika pflegten Khoi-Viehzüchter westlich des Fish River rege Handelskontakte mit Bantu-Bauern östlich dieses Flusses, verzichteten aber selbst auf die Einführung des Ackerbaus. Warum?
Wieder andere Jäger und Sammler, die Kontakt zu bäuerlichen Gesellschaften hatten, wurden zwar später selbst Bauern, aber erst nach einer, wie uns scheinen mag, übermäßig langen Phase des Abwartens. Ein Beispiel sind die Küstenbewohner im heutigen Norddeutschland, die erst 1300 Jahre nach Einführung der Landwirtschaft durch die Völker der bandkeramischen Kultur, die nur 200 Kilometer weiter südlich siedelten, zu Ackerbau und Viehzucht übergingen. Warum warteten die Küstengermanen so lange, und was führte schließlich zu ihrem Sinneswandel?
Bevor wir diese Fragen beantworten können, müssen einige falsche Vorstellungen über die Anfänge der Landwirtschaft zurechtgerückt werden. Wir sollten auch unsere Wortwahl ändern. Was in Wirklichkeit geschah, war weder die Entdeckung der Landwirtschaft noch ihre Erfindung, wie man zunächst denken könnte. Oft wurde nicht einmal eine bewußte Entscheidung zwischen Landwirtschaft auf der einen und Jagen und Sammeln auf der anderen Seite getroffen. Vor allem dort nicht, wo in den verschiedenen Regionen der Welt erstmals mit Ackerbau oder Viehzucht begonnen wurde und die Bewohner mangels Anschauung gar nicht wissen konnten, worauf sie sich einließen. Wie wir sehen werden, entwickelte sich die Landwirtschaft in einer langsamen Evolution als Nebenprodukt von Entscheidungen, die ohne Kenntnis der weiteren Folgen getroffen wurden. Folglich müssen wir fragen, warum es zu dieser Evolution kam, warum sie an einigen Orten stattfand, an anderen jedoch nicht, warum die Zeitpunkte von Region zu Region so unterschiedlich waren und warum die Evolution der Landwirtschaft nicht viel früher oder später erfolgte.
Ein weiterer Irrtum betrifft die zwangsläufig scharfe Abgrenzung zwischen nomadischen Jägern und Sammlern und seßhaften Bauern. Obwohl wir häufig von einem derartigen Gegensatzpaar ausgehen, wurden in Wirklichkeit Jäger und Sammler in vielen fruchtbaren Gebieten, so an der pazifischen Nordwestküste Nordamerikas und vermutlich auch im Südosten Australiens, seßhaft, ohne Landwirtschaft zu betreiben. Andere Jäger und Sammler in Palästina, an der Küste Perus und in Japan wurden erst seßhaft und taten den Schritt zur Landwirtschaft viel später. Auf seßhafte Gruppen entfiel vor 15 000 Jahren, als alle bewohnten Gegenden der Erde
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