Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Arm und Reich

Arm und Reich

Titel: Arm und Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
Vom Netzwerk:
Veränderung be­trifftdiepflanzliche Reproduktion. Ein generelles Problem bei der Züchtung von Kulturpflanzen liegt darin, daß die vereinzelt auftretenden mutierten Formen für Menschen nützlicher sind als die normalen (z. B. wegen ihrer größe­ren oder weniger bitteren Samen). Wenn sich diese wün­schenswerten Mutanten dann aber mit normalen Pflanzen kreuzten, wurde die Mutation sofort abgeschwächt oder ging wieder verloren. Unter welchen Umständen blieb sie im Interesse der frühen Bauern bewahrt?
    Bei Arten, bei denen sich die einzelnen Individuen ohne »fremde Hilfe« fortpflanzen, bleibt eine Mutation automatisch erhalten. Das gilt für Pflanzen mit unge­schlechtlicher Fortpflanzung (Bildung von Nachwuchs aus einer Knolle oder Wurzel der Ausgangspflanze) oder für zwittrige Pflanzen mit der Fähigkeit zur Selbstbe­fruchtung. Bei der großen Mehrzahl der Wildpflanzen erfolgt die Reproduktion jedoch nicht auf diese Weise. Entweder sind sie zweigeschlechtlich ohne die Fähigkeit zur Selbstbefruchtung, so daß sie sich mit zwittrigen Art­genossen gegenseitig begatten müssen (»mein männli­cher Teil befruchtet deinen weiblichen Teil, dein männ­licher Teil befruchtet meinen weiblichen Teil«), oder es handelt sich um getrennte männliche und weibliche In­dividuen, wie wir es von den Säugetieren her kennen. Beides war höchst unerfreulich für die frühen Bauern, denen dadurch alle vorteilhaften Mutanten verlorengin­gen, ohne daß sie den Grund kannten.
    Die Lösung hing mit einem weiteren Typ unsichtba­rer Veränderungen zusammen. Viele Mutationen be­treffen die Fortpflanzungsbiologie selbst. So wuchsen an einigen mutierten Pflanzen Früchte ohne vorherige Bestäubung – ein Umstand, dem wir kernlose Bananen, Weinbeeren, Apfelsinen und Ananas verdanken. Einige mutierte Zwitter gewannen die Fähigkeit zur Selbstbe­fruchtung, die ihnen vorher fehlte, was unter anderem bei zahlreichen Obstbäumen wie Pflaumen, Pfirsichen, Äpfeln, Aprikosen und Kirschen der Fall war. Einige mu­tierte Weinbeeren, die normalerweise getrennt in männ­licher und weiblicher Form auftreten, wurden ebenfalls zu selbstbefruchtenden Zwittern. Auf diese und andere Weise gelangten frühzeitliche Bauern auch ohne Kennt­nis der pflanzlichen Reproduktionsbiologie in den Be­sitz wertvoller, sich reinrassig vermehrender Kulturfor­men, deren Aussaat lohnender war als die anfangs viel­versprechender Mutanten, deren Nachkommen sich als nutzlos erwiesen.
    Die Auslese einzelner Pflanzen erfolgte somit nicht nur auf der Grundlage wahrnehmbarer Eigenschaften (wie Größe und Geschmack), sondern auch anhand unsicht­barer Merkmale (wie Verbreitungsmittel, Keimverzug und Reproduktionsbiologie). Als Resultat zielte die Aus­lese bei verschiedenen Pflanzen auf ganz unterschied­liche oder sogar entgegengesetzte Merkmale. Bei eini­gen (zum Beispiel bei der Sonnenblume) war das Ziel die Vergrößerung der Samen, bei anderen (zum Beispiel Bananen) waren dagegen Früchte mit winzigen Samen­kernen oder ganz ohne solche gewünscht. Beim Kopf­salat wurden üppige Blätter auf Kosten von Samen oder Früchten gezüchtet, bei Weizen und Sonnenblumen Sa­menkörner auf Kosten der Blätter und beim Kürbis die Frucht auf Kosten der Blätter. Besonders aufschlußreich sind Fälle, in denen eine einzige Wildform zu verschie­denen Zwecken gezüchtet wurde, so daß mehrere Kul­turformen mit sehr unterschiedlichem Aussehen ent­standen. Bei Rüben, die schon in babylonischen Zeiten wegen ihrer Blätter angebaut wurden (wie die heutigen Sorten, die wir Mangold nennen), interessierte man sich später für die eßbaren Wurzeln und schließlich (im 18. Jahrhundert) für ihren Zuckergehalt (Zuckerrüben). Die Vorfahren des heutigen Kohls, die ursprünglich mögli­cherweise wegen ihrer ölhaltigen Samen angebaut wur­den, erlebten eine noch größere Variierung: Sie wurden zu verschiedenen Zeitpunkten wegen der Blätter (heuti­ger Kohl, Grünkohl), Stiele (Kohlrabi), Knospen (Rosen­kohl) und Sprossen (Blumenkohl, Brokkoli) gezüchtet.
    Bisher haben wir erörtert, wie aus Wildformen durch die – bewußte oder unbewußte – Auslese des Menschen Kulturformen entstanden: Bauern wählten zunächst die Samen einzelner Wildpflanzen aus, um sie in Gärten zu säen; dann wählten sie von den Nachkommen jedes Jahr bestimmte Samen aus und verwendeten sie im nächsten Jahr als Saatgut. Zu einem großen Teil war die Domesti­kation aber auch Resultat einer

Weitere Kostenlose Bücher