Arm und Reich
Veränderung betrifftdiepflanzliche Reproduktion. Ein generelles Problem bei der Züchtung von Kulturpflanzen liegt darin, daß die vereinzelt auftretenden mutierten Formen für Menschen nützlicher sind als die normalen (z. B. wegen ihrer größeren oder weniger bitteren Samen). Wenn sich diese wünschenswerten Mutanten dann aber mit normalen Pflanzen kreuzten, wurde die Mutation sofort abgeschwächt oder ging wieder verloren. Unter welchen Umständen blieb sie im Interesse der frühen Bauern bewahrt?
Bei Arten, bei denen sich die einzelnen Individuen ohne »fremde Hilfe« fortpflanzen, bleibt eine Mutation automatisch erhalten. Das gilt für Pflanzen mit ungeschlechtlicher Fortpflanzung (Bildung von Nachwuchs aus einer Knolle oder Wurzel der Ausgangspflanze) oder für zwittrige Pflanzen mit der Fähigkeit zur Selbstbefruchtung. Bei der großen Mehrzahl der Wildpflanzen erfolgt die Reproduktion jedoch nicht auf diese Weise. Entweder sind sie zweigeschlechtlich ohne die Fähigkeit zur Selbstbefruchtung, so daß sie sich mit zwittrigen Artgenossen gegenseitig begatten müssen (»mein männlicher Teil befruchtet deinen weiblichen Teil, dein männlicher Teil befruchtet meinen weiblichen Teil«), oder es handelt sich um getrennte männliche und weibliche Individuen, wie wir es von den Säugetieren her kennen. Beides war höchst unerfreulich für die frühen Bauern, denen dadurch alle vorteilhaften Mutanten verlorengingen, ohne daß sie den Grund kannten.
Die Lösung hing mit einem weiteren Typ unsichtbarer Veränderungen zusammen. Viele Mutationen betreffen die Fortpflanzungsbiologie selbst. So wuchsen an einigen mutierten Pflanzen Früchte ohne vorherige Bestäubung – ein Umstand, dem wir kernlose Bananen, Weinbeeren, Apfelsinen und Ananas verdanken. Einige mutierte Zwitter gewannen die Fähigkeit zur Selbstbefruchtung, die ihnen vorher fehlte, was unter anderem bei zahlreichen Obstbäumen wie Pflaumen, Pfirsichen, Äpfeln, Aprikosen und Kirschen der Fall war. Einige mutierte Weinbeeren, die normalerweise getrennt in männlicher und weiblicher Form auftreten, wurden ebenfalls zu selbstbefruchtenden Zwittern. Auf diese und andere Weise gelangten frühzeitliche Bauern auch ohne Kenntnis der pflanzlichen Reproduktionsbiologie in den Besitz wertvoller, sich reinrassig vermehrender Kulturformen, deren Aussaat lohnender war als die anfangs vielversprechender Mutanten, deren Nachkommen sich als nutzlos erwiesen.
Die Auslese einzelner Pflanzen erfolgte somit nicht nur auf der Grundlage wahrnehmbarer Eigenschaften (wie Größe und Geschmack), sondern auch anhand unsichtbarer Merkmale (wie Verbreitungsmittel, Keimverzug und Reproduktionsbiologie). Als Resultat zielte die Auslese bei verschiedenen Pflanzen auf ganz unterschiedliche oder sogar entgegengesetzte Merkmale. Bei einigen (zum Beispiel bei der Sonnenblume) war das Ziel die Vergrößerung der Samen, bei anderen (zum Beispiel Bananen) waren dagegen Früchte mit winzigen Samenkernen oder ganz ohne solche gewünscht. Beim Kopfsalat wurden üppige Blätter auf Kosten von Samen oder Früchten gezüchtet, bei Weizen und Sonnenblumen Samenkörner auf Kosten der Blätter und beim Kürbis die Frucht auf Kosten der Blätter. Besonders aufschlußreich sind Fälle, in denen eine einzige Wildform zu verschiedenen Zwecken gezüchtet wurde, so daß mehrere Kulturformen mit sehr unterschiedlichem Aussehen entstanden. Bei Rüben, die schon in babylonischen Zeiten wegen ihrer Blätter angebaut wurden (wie die heutigen Sorten, die wir Mangold nennen), interessierte man sich später für die eßbaren Wurzeln und schließlich (im 18. Jahrhundert) für ihren Zuckergehalt (Zuckerrüben). Die Vorfahren des heutigen Kohls, die ursprünglich möglicherweise wegen ihrer ölhaltigen Samen angebaut wurden, erlebten eine noch größere Variierung: Sie wurden zu verschiedenen Zeitpunkten wegen der Blätter (heutiger Kohl, Grünkohl), Stiele (Kohlrabi), Knospen (Rosenkohl) und Sprossen (Blumenkohl, Brokkoli) gezüchtet.
Bisher haben wir erörtert, wie aus Wildformen durch die – bewußte oder unbewußte – Auslese des Menschen Kulturformen entstanden: Bauern wählten zunächst die Samen einzelner Wildpflanzen aus, um sie in Gärten zu säen; dann wählten sie von den Nachkommen jedes Jahr bestimmte Samen aus und verwendeten sie im nächsten Jahr als Saatgut. Zu einem großen Teil war die Domestikation aber auch Resultat einer
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