Armegeddon Rock
eine Sekunde kehrte das seltsame Glitzern in die braunen Augen zurück, und Sandy versuchte es genau zu bestimmen. Überzeugung? Fanatismus? Was? »Ich würde wetten«, sagte Morse, »daß du nicht immer so empfunden hast. Sei ehrlich mit dir selbst. Vergiß, was dieses Werbe-Arschloch gesagt hat, und schau in dich hinein, erinnere dich, wie es war.
Woodstock. Kent State. Kambodscha. Wie hast du damals empfunden?«
Sandy setzte zu einer Antwort an und hielt mit offenem Mund inne. Der Widerspruch wollte nicht kommen. Morse hatte ihn. Er hatte daran geglaubt; sogar der praktische, innerhalb des Systems arbeitende Clean-forGene-Sandy Blair, der Skeptiker, der Witzbold, sogar er hatte für ein paar magische Augenblicke daran geglaubt.
Edan Morse beobachtete Sandys Gesicht. »Kennst du Julius Caesar?« fragte er. »Wo Brutus sagt: Es gibt Gezeiten auch für unser Tun, nimmt man die Flut wahr, führet sie zum Glück; versäumt man sie, so muß die ganze Reise des Lebens sich durch Not und Klippen winden? Für uns, für das Movement, war das unsere Flut: Kambodscha und Kent State. Das war der Moment, den wir ergreifen mußten. Seither sind wir immer in unseren eigenen Nöten und Klippen getrieben. Die Revolution ist ein Scherz geworden, an den man sich undeutlich erinnert, sogar für uns. Der Traum ist zu Asche geworden.« Seine Stimme war leise und traurig und überzeugend.
»Ich kenne das Stück«, sagte Sandy. »Ich weiß auch, daß es diese Rede war, die Brutus und Cassius nach Philippi und zum Ende ihrer Revolution gebracht hat.«
»Es ist nur ein Theaterstück«, meinte Morse leichthin und tat Sandys Einwand mit einem beiläufigen Schwenken des schlangenüberzogenen Dolches ab, den er lose in der Hand hielt.
»Selbst wenn Sie recht haben, was macht es für einen Unterschied?« fragte Sandy. »Die Flut ist vorüber, das haben Sie selber zugegeben. Die Revolutionäre haben sich Häuser auf dem Land und dreiteilige Anzüge gekauft. Sie werden sich nie mehr erheben.«
»Stimmt soweit«, sagte Edan Morse. »Das heißt, wenn man die Zeit nicht irgendwie umkehren, die Flut wiederkehren lassen kann.« Er beugte sich gespannt vor. »Laß mich dir eine Frage stellen. Wann waren die Sechziger zu Ende?«
»Ende ’69«, sagte Sandy, »oder Ende ’70, wenn man Purist ist, weil es kein…«
»Laß mich mit diesem Kalenderquatsch zufrieden«, unterbrach Morse. »Ich spreche vom Geist einer Epoche und nicht davon, wann diese dämliche Kugel am Times Square gefallen ist. Die Sechziger begannen, als Kennedy ermordet wurde und es in Nam rundging. Also, wann waren sie zu Ende, Sandy? Wann?«
Sandy zuckte die Achseln. »An dem Tag, als Nixon zurücktrat, vielleicht. Oder am Tag, als Saigon fiel und der Krieg aus war.«
»Falsch. Zu spät. Unsere Flut hat lange zuvor abzuebben begonnen. Unser Schwung, unsere Einheit, das Gefühl der Bestimmung, des unvermeidlichen Triumphs – wir hatten das alles verloren, ohne recht zu merken, wann es angefangen hat zu zerrinnen, und trotzdem haben wir es gespürt. Ich habe mich damit beschäftigt. Ich kenne den Moment, wo es sich verändert hat. Ich weiß es!«
Sandy saß ganz still und sah Edan Morse an, und ein kalter Schauer durchlief ihn bis ins Mark. Draußen war die Sonne untergegangen. Hinter Morse war es dunkel, nur eine dünne, scharlachrote Linie aus Licht schnitt über den Horizont. Über der rotgetönten See rollten Wolken unter einem dunklen Himmel dahin. Dunkelheit und Sturm und Chaos; und Morses Augen glitzerten. »Wann?« fragte Sandy.
»Du weißt es«, erwiderte Morse. »Es steht dir im Gesicht geschrieben. Tief im Innern weißt du’s. Du hast es die ganze Zeit über geahnt.« Sein Lächeln war irgendwie erschreckend. »Sag es«, befahl er.
»Am 20. September«, antwortete Sandy mit trockenen Lippen. »Am 20. September 1971.«
»West Mesa«, sagte Morse. »Und das Ende der Nazgûl.« Er nahm das silberne Messer in die rechte Hand und zog es fest über seine linke Handfläche. Eine lange rote Wunde klaffte auf. Seine Handfläche trug die Narben anderer Schnitte. Blut quoll aus der Wunde, tropfte auf den Tintenlöscher herab und hinterließ karmesinrote Spritzer auf Sandys purpurner Karte. »Es war die ganze Zeit in unserem Blut«, fuhr Edan Morse mit leidenschaftlicher Überzeugung in der Stimme fort. »Die Musik, Sandy, die Musik. Sie war unser Ansporn, unsere treibende Kraft, sie hat uns entflammt und belebt, uns Mut und ein Ziel und die Wahrheit gegeben. Die Songs
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