Arminius
den Vater nicht mehr.
Obwohl er nicht mehr nach Hause konnte und auch sonst nicht wusste, wohin er sich hätte wenden können, hatte Ergimer dennoch den Fluchtversuch gewagt. Selbst als er sich die Knöchel blutig scheuerte, um die Fußfesseln abzustreifen, und sich vom Pferd schwang, den Kopf einzog vor den gefährlichen Hufen der Rösser, die durch die Luft flogen, und ins Gebüsch rollte, war ihm nur allzu bewusst gewesen, dass ihm der Weg nach Hause verwehrt blieb.
Messerscharf schoss ihm Schmerz durch die kleine Brust. Frierend schlang er die Arme um sich und versuchte tapfer, die wieder aufsteigenden Tränen zurückzuhalten. Er fühlte sich allein auf der Welt, von seinen Eltern und von seiner Sippe und seinem Stamm im Stich gelassen. In diesem Augenblick beneidete er sogar den römischen Jungen, der seinen Vater wenigstens betrauern und ehren durfte. Der nicht verraten worden war wie er. Verrat ist schlimmer als Tod, so hatte es ihn doch kein anderer als der Vater gelehrt.
Plötzlich schaute der römische Knabe zu Ergimer herüber. Kurz trafen sich ihre Blicke, in denen wie ein Reflex der Schwerter kalter Hass funkelte. Gleich darauf verlor er den kleinen Römer wieder aus den Augen.
Es folgten zwei Sklaven mit einer Sänfte, die für die Frau und den Sohn des Imperators bestimmt war, vermutlich, falls ihnen unterwegs die Füße den Dienst versagen sollten, dachte Ergimer abfällig. Hinter ihnen schritten ein Dutzend offenbar wichtige Personen. Die kleine Gruppe nahm vor den Legionen Aufstellung. Dann setzten sich die Musiker, die Trommler und Bläser an die Spitze des Leichenzuges.
Der Mond war verschwunden, und der neue Tag begann mit einer fahlen Morgendämmerung. Eine melancholische Melodie hüllte den Trauerzug ein, eine Melodie, die auch Ergimer das Herz beschwerte und wie betäubendes Grau in ihn eindrang. Denn in diesem Moment starb die Heimat in ihm, und es war, als ob an diesem kühlen, fremden Morgen in einem Winkel seines Herzen das Feuer erlosch.
Der Zug setzte sich in Bewegung. In einer Kurve entdeckte der Junge, dass der Imperator Nero Claudius Tiberius zu Fuß voranschritt, der Mann, der ihn aus seiner Heimat gerissen und seine Flucht verhindert hatte.
Zweimal hielten sie unterwegs Nachtlager. Dann erreichte die Prozession an einem Regentag endlich den Rhenus. Ein Schwarm von Graureihern, die sich versammelten, um in den Süden zu fliegen, hatte sie auf ihrem Weg begleitet. Die anmutigen Vögel rissen Ergimer aus seinen trüben Gedanken und gaben ihm Mut, denn so oft sie auch im Herbst in die Fremde flogen, kehrten sie im Frühjahr doch immer wieder.
Ergimer befand sich mit den anderen Geiseln und den Bewachern zwar etwas abseits, dennoch konnte er von seinem Standpunkt aus die Zeremonie verfolgen. Im Schlamm stehend nahm das Heer noch ein letztes Mal Aufstellung vor dem Leichnam ihres Feldherrn, den ein Baldachin vor dem Wasser schützte. Der Regen, der unablässig von den Helmen der Soldaten troff und ihre Kleidung durchdrang, wollte kein Ende nehmen. In den regennassen kantigen Gesichtern der Legionäre mischten sich Trauer und eine Art entschlossener Trotz. Grimmig schlugen sie mit den Schwertern an ihre Schilder, dann riefen sie: »Salve Imperator!«, und verneigten sich.
Ergimer war tief ergriffen von dem gewaltigen Anblick der unzähligen Männer, die alle zugleich in die Knie gingen, die Helme vor sich auf den Boden legten, das nunmehr bare Haupt neigten, die Schwerter mit der rechten Hand senkten, die Schilde seitlich an ihr linkes Knie lehnten und schließlich die linke Hand, zur Faust geballt, vor das Herz hielten. Nur die Träger der Feldzeichen waren stehen geblieben, aber auch sie richteten ihre Adler zu Boden. In den Augen dieser harten Männer entdeckte der Junge zu seiner großen Überraschung Tränen, die von den Regentropfen nur unzureichend verborgen wurden.
»Salve Imperator«, dröhnte es noch einmal über die Ebene. »Salve Imperator!«
Es folgte einer lange Stille. Kein Zweifel, diese Römer hatten ihren Feldherrn Drusus geliebt. Tiberius trat barhäuptig vor die Bahre, verneigte sich vor dem Toten, dann wandte er sich den Legionären zu. Die Feldzeichenträger stellten ihre Adler wieder auf. Daraufhin erhoben sich die Soldaten, steckten das Schwert in die Scheide, behielten aber ihre Helme unter dem Arm.
Der Imperator wartete, bis wieder Ruhe in den Linien herrschte, dann brüllte er: »Römer! Ihr habt euren Feldherrn verloren. Deshalb schmücken euch die
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