Arminius
Gehorsam trat Flavus zu dem Mann, der sein Schwert in die Scheide zurückgleiten ließ. Noch einmal bäumte sich alles in Arminius auf, und er machte einen Schritt, um seinem Bruder hinterherzurennen. Doch schon spürte er schmerzhaft den knochigen Griff des Tiberius, der sich um seine Kehle legte.
»Lerne zu gehorchen, Germane, sonst bist du des Todes!«, fuhr er den Jungen an, während er zudrückte, fester und immer fester, bis Arminius die Sinne schwanden.
Sie schaute in zwei gütige blaue Augen. Nachdem sie ihr Staunen überwunden hatte, blickte Elda sich um. Die Frau vor ihr wirkte trotz ihres Alters hochgewachsen und asketisch schlank. Sie befanden sich in einer runden Hütte, die recht groß war. In der Mitte knisterte und knackte lustig ein Feuer. Jetzt erst stellte Elda fest, dass sie unter einem dicken Fell lag und dass sie sich geborgen und wohlig warm fühlte. Aber wo befand sie sich?
»Danke Ansar, dass du hier bist. Er hat dich gerettet«, sagte die Frau. Elda blickte sich in der Hütte um und entdeckte in einer Ecke den Albino. Er trug inzwischen Leinenhosen und ein Leinenhemd, und außer dass seine Augen immer noch rot waren und ihm keine Haare wuchsen, sah er wie ein Mensch aus und nicht mehr wie ein Kobold. Die Frau reichte ihr eine Tasse mit einer schwarzen, stark nach Kräutern duftenden Flüssigkeit.
»Trink das, Elda.«
Das Mädchen nahm verwundert die Tasse. »Du kennst meinen Namen?«
»Ich kenn die Sterblichen und die Unsterblichen.«
»Du bist Nehalenia?«
»Ja.« Die Frau lächelte. »Aber jetzt trink.«
Elda hielt die Tasse mit beiden Händen umklammert. Die Kräuter dufteten betörend und verführten ihre Geruchsnerven. Sie schlürfte den heißen Trunk mit kleinen Schlucken und genoss das Wohlgefühl, das sich langsam, Tropfen für Tropfen auf ihrer Zunge ausbreitete. Honig war in dem Trunk und Milch, Kamille und Süßgras und Aromen, die sie das erste Mal schmeckte, süßsauer, frisch wie ein Luftzug, der über die Zunge zog und schließlich einen leicht blumigen Geschmack im Schlepptau führte. Sie fühlte, dass sich die ganze Welt in ihr ausbreitete und ihr Raum zum Atmen brachte. Elda konnte regelrecht spüren, wie sich ihre Bronchien weiteten. Dankbar schaute sie Nehalenia an und deutete fragend auf das Getränk.
»Was ist das?«
»Gesundheit für ein kleines Mädchen, das sich beinahe den kalten Tod geholt hätte.«
»Ich habe ihn gesehen, den Tod«, erinnert sich Elda plötzlich mit Schrecken. Wieder stand der Totenschädel vor ihrem geistigen Auge. Nehalenia machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Ach was, es war nicht dein Tod, es war sein Tod«, sagte die weise Frau und deutete auf den Albino in der Ecke. »Aber er ist ihm entgangen, denn es ist noch nicht Zeit für ihn.«
»Siehst du es etwa den Menschen an, wann ihre Zeit kommt?« Elda ließ verwundert die Tasse sinken. Nehalenia führte sie wieder zum Mund des Mädchens.
»Trink, bevor es kalt ist. Es hilft nur, wenn man es so heiß trinkt, dass es einem fast die Eingeweide verbrennt. Ich erzähle dir inzwischen, was du wissen willst, du aber trink, unablässig, stetig, mit kleinen Schlucken!« Elda folgte der Aufforderung und schlürfte den Sud, während sie gespannt Nehalenias Worten lauschte.
»Immer wenn der erste Schnee fällt, werden die Knaben, die zu Jünglingen herangewachsen sind, wie dein Bruder Segimund in den Kreis der Männer aufgenommen. Um die Verbindung zu den Ahnen aufzunehmen, jagen sie als wildes Heer, als Totenkrieger verkleidet und mit Schädelmasken bedeckt, durch die vereiste Landschaft, über den Neuschnee. Leider glauben sie, dass der Neuschnee, der den Tod darstellt, auf ihrem Durchgang zu einem neuen Leben, zum Leben der cheruskischen Krieger mit Blut benetzt werden muss, mit dem Blut eines Koboldes. Deshalb haben sie Ansar gejagt, um ihn zu opfern. Jedes Mal muss eines dieser bemitleidenswerten Wesen sterben.«
Elda erschrak. Das hatte sie nicht gewusst. Ihr älterer Bruder, der bereits zur Jungmannschaft gehörte, hatte ihr nichts davon erzählt, auch ihr Vater nicht, niemand, denn sie war ja nur ein Mädchen. Die Weihe zum Mann gehörte zum Geheimnis der Männer.
Nehalenia schüttelte den Kopf und sagte mit einer Stimme, in der sich Wut und Trauer mischten: »Ich habe es ihnen immer und immer wieder erklärt, dass sie diese amen Kerle nicht töten sollen, aber nur wenige Fürsten wie Segimer haben mir geglaubt. Die anderen meinen immer noch, dass ihre Söhne ohne vergossenes
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