Arminius
alle Mausoleen, die Arminius unterwegs gesehen hatte.
Der Mittelpunkt der Welt schien Arminius auf den ersten Blick nur aus einer unüberschaubaren Ansammlung von Geschöpfen, Gemäuern und Gerüchen zu bestehen. Überall standen Menschen, sie schauten aus allen Fenstern der albtraumhaft großen Mietshäuser, die die Römer insulae nannten, drängten sich auf allen Treppen und an den Rändern der nicht allzu breiten Straßen. Zwar bildeten seit Ticinum die Menschen ein Spalier, um dem Kaiser und dem Toten zu huldigen, doch war deren Zahl nichts im Vergleich zum Gedränge in der Stadt der Städte. Rom bestand nur aus Menschen über Menschen und aus beunruhigend vielen Häusern, deren Höhe und Breite den Jungen schwindeln machte.
Wo war er? Bei den betriebsamen Zwergen, tief in der Erde, bei den geschäftigen Mischwesen in der Zwischenwelt, in den Irrgärten des Wahnsinns? Arminius hatte das Gefühl, in einen Ameisenhaufen eingesunken zu sein. Überall um ihn herum krabbelten Tausende von Lebewesen, unter ihm, über ihn, neben ihm und kamen ihm gefährlich nahe. Wie sie mit ihren schamlosen Blicken ihre unanständige Neugier an ihm weideten! Er trieb dahin in einer Sturmflut aus Gesten, Grimassen, Pranken, Beinen und Füßen, in einem Wildwasserstrudel des schieren bunten Menschenlebens, in dem er unterzugehen drohte. Eine betäubende Kakophonie aus Schreien und Rufen schlug ihm an die Ohren. Arminius rang nach Luft. Auf seiner auffallend hellen Haut bildeten sich im Gesicht und am Hals rote Flecken. Sein Puls raste. Er glaubte zu ersticken. Auch Germir wirkte blass um die Nase, als die Trauerprozession mit Augustus an der Spitze in Rom Einzug hielt.
Endlich gelangten sie auf einen langen ovalen Platz, der rechts und links von Gebäuden und vorn und hinten von Tempeln gesäumt wurde. Rechter Hand erhob sich ein Hügel, der schwer an den vielen Gebäuden trug, mit denen man ihn bebaut hatte.
»Das Zentrum der Welt, das Forum Romanum, der Ort, an dem alle Angelegenheiten der Stadt und des Reiches beschlossen werden«, flüsterte Salvianus mit vor Ehrfurcht heiserer Stimme. Dann zeigte er auf einen hohen Ziegelbau von beeindruckender Schlichtheit. »Die Curia Julia, die Caesar errichtete.«
»Wozu ist sie da?«, fragte Arminius.
»Dort drin versammelt sich der Senat von Rom, um über alle Angelegenheiten des Reiches zu beraten. Und siehst du das große Gebäude hinter uns?« Arminius wandte sich um und erblickte einen Riesenbau, dessen erstes Obergeschoss Bögen zierten. Er zählte elf hausgroße Rundungen.
»Das Staatsarchiv! Darin lagern alle Schriftstücke und Akten, die Rom betreffen, von den Protokollen der Sitzungen des Senats angefangen bis zu den Eintragungen im Kataster über Grundstücksverkäufe.«
Am meisten aber staunte Arminius darüber, dass Roms wichtigster Platz eine einzige Baustelle war. Gegenüber der Kurie wurde eine fünfschiffige Halle ausgebessert, in der offensichtlich ein Brand gewütet hatte. Salvianus, der dem Blick seines Schützlings folgte, raunte ihm zu: »Die Basilica Julia. Wenn sie wiederhergestellt ist, wird das Gericht dort tagen und die Rechtshändel entscheiden.«
»Regeln das nicht die Männer unter sich?«
»Habt ihr keine Gesetze?«
»Doch.«
»Und gibt es bei euch keine Instanz, die einen Streit beilegt oder ein Verbrechen ahndet?«, fragte Salvianus.
»Doch, das Thing. Der Ratschluss der Männer und Priester.«
»Wir setzen Männer ein, die das nach dem Gesetz und ihrem Ehrgefühl entscheiden.«
Arminius wollte weiterfragen, doch Salvianus gebot ihm zu schweigen. Inzwischen hatte Augustus die Rednertribüne bestiegen. Deren Vorderseite zierten die Rümpfe der in der Schlacht bei Actium versenkten Schiffe, in der Augustus seinen Rivalen im Kampf um die Macht, Marcus Antonius, besiegt hatte. Der Kaiser stand kaum auf dem hohen Podest, da verstummte die Menge, wie von Geisterhand zur Ruhe gebracht.
Arminius war so überwältigt von den neuen Eindrücken, dass er der kurzen Ansprache des Kaisers nicht zu folgen vermochte. Sein Kopf brummte, und er hoffte nur, dass sie bald in ihren Unterkünften ankommen würden, damit er sich erholen konnte.
Der Zug setzte sich wieder in Bewegung, ließ das Forum linkerhand im Osten zurück und bog auf eine Straße, den Clivus Palatinus, der bergaufwärts führte. Je höher man kam, desto mehr ließ der Druck der Gerüche Roms auf die Riechnerven des Jungen nach. Die Luft roch frischer als im Tal. Dennoch spürte Arminius eine
Weitere Kostenlose Bücher