Artefakt
nicht nur zahlreiche Konsulate, sondern auch einen Raumhafen.
Warum fällt mir das jetzt ein?, dachte Rahil. Weckt der Sauerstoffmangel Erinnerungen, die tief in mir vergraben waren? Und warum denke ich solche Gedanken? Weiß ich mit den letzten Momenten meines Lebens nichts Besseres anzufangen?
Ein weiterer Gedanke stieg in ihm auf, klarer als die anderen: Ich sterbe zusammen mit meinem Vater. Wer hätte das gedacht?
Wolken wie schmutzige Watte empfingen das Wrack des Shuttles, und Rahils Lider sanken erneut, weil er nicht mehr die Kraft hatte, sie oben zu halten. Außerdem war es angenehm, einfach die Augen zu schließen und sich dem weichen Nichts hinzugeben. Nur ein bisschen ausruhen, etwas Kraft schöpfen …
Vage spürte er, dass um ihn herum Bewegung entstand. Etwas schüttelte ihn, so heftig, dass ihm die Zähne klapperten. Er verlor die Orientierung und wollte die Augen öffnen, um festzustellen, was geschah, doch die Lider schienen tonnenschwer zu sein, während sich gleichzeitig sein Körper sonderbar leicht anfühlte. Dass er überhaupt etwas fühlte, erstaunte ihn, bedeutete es doch, dass er noch lebte.
Es donnerte und krachte, und die Ouvertüre des Todes, die ihn eben zum Lachen gebracht hatte, schwoll zu einem Crescendo an. Rahil hätte sich gern die Ohren zugehalten, aber wenn er noch Hände hatte, so spürte er sie nicht.
Irgendwann wurde es still. Und kalt. Die Kälte machte ihm erst klar, wie warm es bis eben gewesen war. Er nahm sie in sich auf, mit mühsamen, schmerzvollen Atemzügen.
»Hier liegt noch einer«, erklang eine Stimme. Etwas berührte ihn, und dieselbe Stimme rief: »He, er lebt noch!«
Vorsichtige Finger öffneten seine Augen, und dafür war Rahil dankbar, denn ohne Hilfe hätte er die schweren Lider nicht heben können.
Er lag in einem Trümmerfeld, unter einem Himmel grau wie Schiefer.
Ich lebe, dachte er. Und ich bin auf Heraklon.
32
Regentropfen hämmerten auf ein Dach, und es klang nach dem Rattern von Projektilwaffen. Ihm war kalt, er zitterte, fühlte sich schwer. Hände hüllten ihn in Decken, und zwei von ihnen, zwei sanfte, behutsame Hände, hoben ihm den Kopf an und führten einen Löffel an seine Lippen. Rahil aß und trank mehrmals in dieser kalten, von Regen und Sturm heimgesuchten Nacht, und irgendwo tief in seinem Innern erlebte er eine sonderbare Art von Déjà-vu, denn er glaubte sich an eine andere Welt zu erinnern, auf der ihn Regen und Sturm erwartet hatten.
Einmal sah er ein Gesicht über sich, hell und oval, von rotbraunen Locken umgeben, darin zwei große Augen grün wie Jade. Das Gesicht einer jungen Frau, nicht älter als dreißig, an ihrer Jacke das Emblem des Volontariats der Bruch-Gemeinschaft. Aber er wusste nicht, ob dieses Gesicht wirklich existierte oder aus den Tiefen seiner Träume und wirren Erinnerungen aufgestiegen war.
Als er ein anderes Mal erwachte, schaukelte alles um ihn herum, und ein wechselhaftes, mal lautes, mal leises Brummen begleitete die Bewegungen. Er begriff, dass er auf der Ladefläche eines Wagens lag, und das Brummen schien von einem Verbrennungsmotor zu stammen.
Die Plane über ihm war offen, und er sah den Nachthimmel von Heraklon. Sterne leuchteten dort, und einige der hellen Punkte bewegten sich, vielleicht Satelliten oder Raumschiffe.
Das Gesicht erschien erneut über ihm, und eine sanfte, behutsame Hand berührte ihn an der Stirn. »Eine kleine Pause«, sagte die junge Frau und deutete nach oben. »Die nächste Regenfront ist unterwegs, und danach geht’s richtig los. Die letzten Meldungen der noch funktionierenden Satelliten deuten darauf hin, dass der Zyklon über dem Korallenmeer in diese Richtung zieht. Wenn er uns erreicht, sollten wir die Stadt verlassen haben und am besten schon auf der anderen Seite des Großen Grau sein.«
Rahil versuchte zu antworten, brachte aber nur ein Krächzen hervor.
»Sprechen Sie Stellar?«, fragte die Frau. »Verstehen Sie mich?«
Rahil nickte, und dann fielen ihm wieder die Augen zu.
Als er die Lider, jetzt nicht mehr ganz so schwer, das nächste Mal hob, begrüßten ihn ein grauer Tag und viele Stimmen. Rahil blieb ruhig liegen und versuchte, seine Gedanken zu ordnen und sich zu orientieren. Er befand sich im Innern eines improvisierten Gebäudes, das aus Zeltplanen und Blechteilen bestand und offenbar in aller Eile errichtet worden war, denn manche Komponenten passten nicht richtig zusammen – hier und dort pfiff der Wind durch Ritzen und zerrte an den Planen.
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