Artefakt
Präzision ihrer gleichzeitigen Manöver war ein Wunder. In solch scheinbar gewöhnlichen Dingen schien die Mathematik auf die beiläufigste und zugleich eleganteste Weise verwirklicht. Wie bestimmte die Natur die gleichzeitigen abrupten Manöver von tausenden kleiner Individuen, wie regelte sie ihren Zusammenhalt in den Strömungen, mit welchem Maß bestimmte sie den Augenblick, da er ihnen zu nahe kam? Das war, was ihn zur Mathematik gezogen hatte. Nicht weil es eine abstrakte, theoretische Wissenschaft war, sondern weil er darin eine Sonde zu ungesehenen tieferen Wirklichkeiten sah. Die Leute sagten, Mathematiker seien weltfremd, und verbreiteten sich darüber, daß Einstein sich beim Einkaufen mit dem Kleingeld verrechnete. Unsinn. Es war ihm einfach gleichgültig. Ihn beschäftigte das Subtile, die Schönheit der mathematischen Logik.
Er schwamm auf den Schatten des Kliffs zu. Die Gesteinsrücken verliefen noch immer gerade, und nun begannen sie sich aus dem sandigen Boden zu erheben; stufenweise geschichtet, verrieten sie die Lage und Neigung alter Sedimente.
Er blickte auf. Er war noch immer wenigstens sieben Meter unter der Oberfläche. Er glitt in den Schatten des Kliffs. Hier war die Klarheit gedämpft, und Algen und Seetang klammerten sich in jeden Spalt, grün und rötlich und zimtfarben wedelten sie schläfrig in der Strömung und verhüllten die zerbrochenen Konturen der steinernen Röhre.
Der Winkel der beiden Gesteinsgrate wurde steiler, als John sich den Felsbastionen des Kliffs näherte. Hier war die Erosion stärker, wahrscheinlich durch die Einwirkung der Brandungswellen. Durch das regelmäßige Gurgeln und Blubbern seiner ausgeatmeten Blasen vernahm er jetzt das dumpfe Murmeln von Turbulenzen über sich. Im Dämmerlicht verlor er die Gesteinskämme aus den Augen. Inzwischen war er unter überhängendem Fels, und die Riffel des gebrochenen Lichts veränderten die Wahrnehmung. Schatten waren hier tiefer, der glattgeschliffene Fels steiler und höher. Er schwamm aufwärts, in Dunkelheit.
Eine Höhle. Ein vom Wasser gebildeter Durchlaß, der aufwärts in den massiven Fels des Kliffs führte. Er erinnerte sich, wie er neben dem Block in der engen kleinen Höhle gestanden hatte, einen halben Schritt vom Rand der dunklen Öffnung entfernt. Dort hatte man das ferne Rauschen von Wasser gehört. Also ging dieser Kanal durch das Gestein der Landzunge aufwärts und hatte Verbindung mit jener Höhle.
John hakte seine Lampe los und schaltete sie ein. Die Höhlenwände waren glatt und im gelblichen Licht ohne besondere Merkmale. Er schwamm langsam weiter aufwärts. Steilheit und Winkel des Durchlasses blieben unverändert. Claire meinte, daß abfließendes Regenwasser von oben in den 3500 Jahren, seit die Mykener das Kuppelgrab ihres Königs versiegelt hatten, allmählich diesen unterirdischen Höhlengang ausgewaschen hatte. Vielleicht eine interessante Entdeckung für Geologen, obwohl er wußte, daß unterirdische Höhlensysteme im Kalk eher die Regel als die Ausnahme waren.
Etwas streifte seine Schulter, und er warf sich herum. Das Herz schlug ihm im Halse. Ein Strang Seetang. Die Brandungstätigkeit war hier in der Abgeschlossenheit nur schwach, aber jedesmal, wenn ein plötzlicher Strömungsschwall ihn weiter die Höhle hinauftrug, versteifte er sich unwillkürlich und suchte Halt, um nicht zu weit hineingetragen zu werden.
Seine Sauerstoffbehälter schlugen gegen moosigen Stein. Der Lampenschein zeigte nicht mehr als ein glattes, ziemlich rundes Loch voraus, das in unregelmäßigen Windungen aufwärts führte. Tintige kalte Strömungen kamen aus finsteren Winkeln. Er beschloß umzukehren. Für diesmal hatte er genug erkundet.
Claire sprang auf, als er neben dem Boot die Oberfläche durchbrach. »Mein Gott! Sie waren so lange aus – was ist geschehen?«
»Ich habe ein Abflußloch gefunden.«
Der Bootseigner half ihm an Bord. Er befreite sich von den Schultergurten der Sauerstoffflaschen.
»Sind Sie sicher?«
»Ganz gewiß. Ich weiß, was Sie denken – daß es ein Tunnel war, ausgehöhlt von den Erbauern des Grabes.«
»Ah, ja.«
»Also, wenn es so war, müssen sie Leute gewesen sein, die von der Arbeit nicht genug kriegen konnten. Der ausgewaschene Höhlengang setzt sich zum Meeresboden hin fort, man kann ihn unter Wasser ungefähr hundert Schritte weit verfolgen. Der Durchmesser beträgt stellenweise kaum einen Meter. Sieht wie ein zusammengefallenes Rohr aus. Zuletzt verschwindet es im
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