Arthur & George
der Angeklagte aus den in der Anklageschrift genannten Gründen hier vor Gericht stand.
Der Rest des Tages gehörte Thomas Henry Gurrin, der bestätigte, dass er Handschriftenexperte mit neunzehnjähriger Erfahrung auf dem Gebiet der Identifizierung verstellter und anonymer Handschriften sei. Des Weiteren bestätigte er, dass seine Dienste des Öfteren vom Ministerium des Inneren in Anspruch genommen worden seien und dass er zuletzt als Sachverständiger in dem Mordfall auf einem Viehbauernhof aufgetreten sei. George wusste nicht, wie er sich einen Handschriftenexperten vorgestellt hatte – trocken und gelehrtenhaft vielleicht, mit einer Stimme wie eine kratzende Feder. Der rotwangige Mr Gurrin mit seinem Backenbart hätte ein Bruder von Mr Greensill sein können, dem Fleischer in Wyrley.
Ungeachtet seiner Physiognomie nahm Mr Gurrin dann den ganzen Gerichtssaal in Beschlag. Proben von Georges Handschrift wurden in photographischer Vergrößerung vorgelegt. Ebenso wurden Proben der anonymen Briefe in photographischer Vergrößerung vorgelegt. Originaldokumente wurden beschrieben und an die Geschworenen weitergereicht, die sie, wie es George schien, unendlich lange betrachteten und sich zwischendurch immer wieder Zeit nahmen, den Angeklagten ausgiebig anzustarren. Mr Gurrin zeigte mit einem hölzernen Stöckchen auf einzelne charakteristische Schleifen, Häkchen und Querstriche, und irgendwie wurde aus der Beschreibung erst Interpretation, dann eine theoretische Möglichkeit und schließlich absolute Gewissheit. Am Ende war es Mr Gurrins wohlerwogene fachmännische und gutachterliche Meinung, dass der Angeklagte für die anonymen Briefe ebenso verantwortlich sei wie für die erwiesenermaßen von eigener Hand geschriebenen und von ihm selbst unterzeichneten.
»Für alle diese Briefe?«, fragte Mr Disturnal mit einer Handbewegung, die den gesamten Gerichtssaal umfasste, der sich offenbar in ein Skriptorium verwandelt hatte.
»Nein, Sir, nicht für alle.«
»Es gibt auch solche, die Ihrer Meinung nach nicht von dem Angeklagten geschrieben wurden?«
»Ja, Sir.«
»Wie viele?«
»Einen, Sir.«
Mr Gurrin zeigte auf den einzigen Brief, den er nicht George zuschrieb. Diese Ausnahme wirkte, das erkannte George sehr wohl, wie eine Bestätigung der Behauptung Gurrins über alle anderen Briefe. Das war Raffinesse, als Vorsicht getarnt.
Mr Vachall erörterte dann den Unterschied zwischen persönlicher Meinung und wissenschaftlichem Beweis, zwischen Denken und Wissen; doch Mr Gurrin ließ sich dadurch nicht beirren. Er kannte das schon. Mr Vachell war nicht der erste Verteidiger, der durchblicken ließ, seine Verfahrensweise sei nicht exakter als die eines Hellsehers, eines Gedankenlesers oder eines spiritistischen Mediums.
Mr Meek versicherte George später, der zweite Tag sei häufig der schlimmste für die Verteidigung; doch am dritten trete sie selbst den Beweis an, und das sei dann der beste Tag. George hoffte es; er kämpfte gegen das Gefühl, dass ihm seine Geschichte langsam, aber unwiderruflich entrissen wurde. Wenn die Verteidigung ihre Sache vorgetragen hatte, war es vielleicht schon zu spät. Dann würden die Leute – und insbesondere die Geschworenen – nur noch denken: Aber nein, wir haben doch schon gehört, wie das alles war. Warum sollen wir jetzt unsere Meinung ändern?
Am nächsten Morgen wandte er gehorsam Mr Meeks Patentrezept an, um seinen Fall im rechten Licht zu sehen. MORD UM MITTERNACHT. TRAGÖDIE AM KANAL VON BIRMIN GHAM. ZWEI KAHNSCHIFFER FESTGENOM MEN. Diesmal hatte die Methode nicht die gewohnte Wirkung. Er überflog die ganze Seite und las LIEBESTRAGÖDIE IN TIPTON ; hier ging es um einen armen Teufel, der die falsche Frau geliebt und sich schließlich in den Kanal gestürzt hatte. Doch beide Geschichten konnten ihn nicht fesseln, und sein Blick wanderte immer wieder zu den Überschriften zurück. Es ärgerte ihn, dass ein gemeiner Mord eine TRAGÖDIE war und ein erbärmlicher Selbstmord ebenfalls eine TRAGÖDIE . Sein eigener Fall hingegen war und blieb eine GRÄUELTAT .
Und dann fand er fast zu seiner Erleichterung die Schlagzeile TOD DER ÄRZTIN . Er empfand es beinahe als gesellschaftliche Verpflichtung, sich über Miss Hickman auf dem Laufenden zu halten, deren verwesender Leichnam seine Geheimnisse noch immer nicht preisgab. Sie war seit der Eröffnung des Vorverfahrens seine Leidensgefährtin. Gestern hatte man, wie die Post berichtete, nahe der Sidmouth-Schonung im Richmond
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