Artikel 5
Windschutzscheibe herein. Chase zog seine marineblaue MM -Jacke aus und warf sie über die Rückenlehne des Sitzes zwischen uns. Nun trug er nur noch ein dünnes T-Shirt, unter dem sich die kräftigen Muskeln an Armen und Schultern abzeichneten. Mein Blick verweilte ein wenig zu lang, und ich rieb mir gedankenverloren den Bauch.
»Wir halten bald an und beschaffen was zu essen«, sagte er in der Annahme, ich wäre hungrig.
Mir gefiel das nicht; wir mussten so viele Meilen wie nur möglich bis zur Ausgangssperre hinter uns bringen. Doch als ich über Chases Unterarm hinweg auf das Armaturenbrett schaute, sah ich, dass die Tankuhr einen fast leeren Tank anzeigte. Zu Fuß würden wir noch weitaus länger brauchen, um nach Virginia zu kommen.
Wir passierten zwei geschlossene Tankstellen, ehe wir auf eine stießen, die angeblich noch in Betrieb war, zumindest an zwei Tagen in der Woche. Es war ein kleiner Laden namens Swifty’s mit gerade zwei Zapfstellen. Auf dem Preisschild klebte ein Zettel mit der Aufschrift: ZAHLEN SIE IM LADEN, NUR BARZAHLUNG . Unser Wagen war der einzige auf dem Platz.
»Warte hier«, wies mich Chase an. Ich hatte gerade aussteigen wollen, hielt aber nun inne.
»Tut mir leid, aber du hast anscheinend vergessen, dass ich nicht deine Gefangene bin.«
Sein Kinn mahlte. »Du hast recht. Du bist eine gesuchte Ausreißerin. Du darfst gern deren Gefangene werden.«
Ich musterte ihn finster, knallte aber die Tür wieder zu. So ungern ich es zugab, er hatte recht. Wir sollten beide unsere Gesichter nicht zeigen, wenn es nicht zwingend notwendig war.
Chase nahm ein abgewetztes, rotes Flanellhemd aus dem hinteren Bereich des Führerhauses und knöpfte es über seinem T -Shirt zu. Dann zog er die Hosenbeine aus den Stiefeln und versteckte seine MM -Jacke, und mich überwältigte ein fürchterlicher Anfall von Nostalgie. Eine Vision von ihm, wie er auf den vorderen Stufen seines Hauses saß, die langen Beine ausgestreckt und lässig an den Sprunggelenken übereinandergeschlagen. Augen, dunkel und wachsam wie die eines Wolfs, deren Blick sogar aus der Entfernung noch durchdringend war. Seine ebenmäßige Haut und der bronzene Teint, beides ein Spiegelbild seines mütterlichen Chickasaw-Erbes. Sein Haar war nun kurz, ordentlich geschnitten wie das der anderen Soldaten, aber damals war es dicht und glänzend und schwarz um sein kantiges Gesicht herumgewuchert.
Er sah aus wie der alte Chase, auch wenn er sich nicht so verhielt. Ich schluckte schwer.
Die Veränderung brachte mir plötzlich meine eigene Erscheinung zu Bewusstsein. Mein grauer Pullover und der blaue Rock brüllten förmlich »Reformschule«. Ich sah mich auf dem Parkplatz nach möglichen Beobachtern um, besorgt, jemand könnte mich erkennen.
Chase verschwand hinter den getönten Glasscheiben des Minimarkts. Während die Minuten vergingen, nahm meine Paranoia weiter zu. Ich hatte ihm seine Geschichte darüber, dass er die MM verlassen hatte, fraglos abgenommen, aber ich wusste nicht, was wirklich passiert war. Im Grunde hatte er mir gar nichts erzählt, nicht, warum er uns verhaftet hatte, nicht, warum er zurückgekommen war. Nach dem wenigen, was ich wusste, konnte er nun ebenso gut die MM kontaktieren. Meine Fersen trommelten einen hektischen Takt auf der zerfurchten Gummimatte.
Die Sonne stand nun knapp oberhalb der Baumkronen. Bald würde es dunkel werden.
Was dauerte da so lange?
Ich streckte gerade die Hand nach dem Türgriff aus, entschlossen, nachzuschauen, was Chase im Schilde führte, als ich es sah: Da war eine große Anschlagtafel am anderen Ende der Glasscheiben. Jegliches Blut wich aus meinem Gesicht. Obwohl ich sechs Meter entfernt war, wusste ich genau, was dort zu lesen war:
VERMISST! SACHDIENLICHE HINWEISE IM FALL EINER SICHTUNG SIND UMGEHEND AN DAS FEDERAL BUREAU OF REFORMATION ZU RICHTEN!
Diese Art Schild hatte ich schon früher gesehen. An dem Minimarkt in der Nähe der Schule.
Mein Foto würde auf diesen Tafeln erscheinen, sobald Brock herausgefunden hatte, dass ich getürmt war. In mir regte sich der verzweifelte Wunsch, nachzusehen, ob es schon da war, aber ich durfte nicht riskieren, gesehen zu werden. Was, wenn der Verkäufer in dem Laden bereits einen Blick auf mich erhascht hatte, als ich vorhin die Tür geöffnet hatte? Wie hatte ich nur so leichtsinnig sein können?
Es ist noch zu früh, sagte ich mir dann im Stillen. Du bist erst seit ein paar Stunden weg.
Ich stellte mir vor, wie Beth und Ryan die
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