Artikel 5
Bilder studierten, so wie wir gemeinsam auf der Tafel nach dem Bild von Katelyn Meadows gesucht hatten. Wie sie mich verteidigten, wenn die Leute im Flüsterton darüber herzogen, was ich wohl getan hatte, dass man mich unter Arrest gestellt hatte. Sie waren echte Freunde, kein falsches Pack, das sich einfach abwenden würde. Plötzlich ging mir auf, dass sie von Katelyns Tod gar nichts wussten. Ich schauderte, erschrocken über die Erkenntnis, dass meine Freunde, sollte ich sterben, nie davon erfahren würden.
Die Tür wurde aufgerissen. Ich war so überrascht, ich wäre beinahe aus dem Fenster gesprungen.
»Hier«, sagte Chase. Das Wechselgeld glitt von der Oberseite eines Kartons mit Wasserflaschen, als er ihn auf den Sitz schob, und ich fing es auf, ehe es zu Boden fallen konnte. Die Quittung wies einen Gesamtbetrag von über dreihundert Dollar aus. Hastig steckte ich die verschiedenen Banknoten in die Tasche. Mir war nicht wohl dabei, Geld offen herumliegen zu haben. Ich konnte kaum fassen, wie viel Bargeld er dabeihatte.
»Ich habe dafür gearbeitet«, sagte er scharf, noch ehe ich danach fragen konnte. »Soldaten erhalten Sold. Das ist ein ganz normaler Job.«
»Ein normaler Job ist das bestimmt nicht«, grummelte ich.
Ich verstaute die Vorräte auf dem Wagenboden, während Chase den Truck auftankte. Unter den Lebensmitteln – Erdnussbutter, Brot und andere Grundnahrungsmittel – fand ich auch einen Schokoriegel mit Mandeln. Hatte er womöglich daran gedacht, dass ich diese Süßigkeit besonders mochte? Vermutlich nicht. Er tat nichts mehr aus reiner Herzensgüte. Und doch schien das eine Geldverschwendung zu sein, so unnötig, dass sie eigentlich nur als Friedensangebot dienen konnte.
Er brauchte nur Augenblicke, um die abisolierten Drähte unter dem Lenkrad zusammenzuführen. Im nächsten Moment erwachte der Truck brummend zum Leben. Als wir auf die Straße zurückfuhren, starrte ich durch die Heckscheibe auf die Vermisstentafel, und ein bitterer Schauer befiel mich, als mir in den Sinn kam, wie sehr sich mein Leben doch verändert hatte. Meine Befreiung aus der Umklammerung der MM war mit einem erdrückenden Verlust einhergegangen. Ich würde mich nie wieder offen zeigen können.
Chase schaltete das MM -Radio ein. Ein Mann mit einer kühlen, ausdruckslosen Stimme sprach.
»… heute auf dem Parkplatz einer Textilfabrik außerhalb von Nashville noch ein FBR -Fahrzeug gestohlen. Der Truck enthielt Uniformen, die für Stützpunkte in ganz Tennessee bestimmt waren. Keine Augenzeugen. Täter vermutlich Aufständische. Verdächtige Aktivitäten sind der Kommandobehörde zu melden.«
»Wer ist das?«, flüsterte ich, als könnte der Sprecher mich hören.
»Ein Reporter des FBR . Er verliest jeden Tag die Regionalnachrichten. Sie werden zu jeder vollen Stunde gesendet.«
»Gibt es viele Aufständische?« Die Vorstellung, dass da Leute waren, die sich gegen die MM zur Wehr setzten, gefiel mir, und ich fragte mich, was sie wohl mit den Uniformen vorhatten.
»Manchmal kommt irgendwer auf die Idee, einen Nachschubtruck zu stehlen, aber nur selten«, informierte er mich. »Meist ist das pure Anarchie. Zerstörung von Statuen, Angriffe auf Soldaten, Ausschreitungen des Mobs. So was in der Art. Nichts, was nicht in den Griff zu kriegen wäre.«
Ich runzelte die Stirn angesichts der Überzeugung, die aus seinen Worten sprach. Es hatte eine Zeit gegeben, da war er nicht viel anders gewesen wie diese Leute, die er nun herabwürdigte.
»Die Revision in Kentucky, West Virginia und Virginia ist beinahe abgeschlossen. Oregon, Washington, Montana und North Dakota folgen ab dem ersten Juni. Schätzungen zufolge ist ab September mit Konformität zu rechnen …«
Im Vorgriff auf meine Frage erklärte mir Chase, was Revision zu bedeuten hatte: die MM ging die Melderegister einer Stadt Punkt für Punkt durch, um alle Personen auszusieben, die gegen Artikel verstoßen hatten.
»Das ist das, was dir auch passiert ist«, sagte er.
Für einen Sekundenbruchteil sah ich Schmerz in seinen Augen aufflackern, und ich ertappte mich dabei, froh zu sein, dass wenigstens ein Teil von ihm ein schlechtes Gewissen hatte wegen der Dinge, die er getan hatte. Zugleich hatte die bloße Erwähnung der Festnahme dazu geführt, dass ich wütend die Fäuste geballt hatte und gegen den Drang ankämpfen musste, ihn noch einmal zu schlagen.
»Das ist eine mühsame Arbeit«, fuhr er fort. »Es erfordert viele Arbeitskräfte. Sämtliche
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