Arto Ratamo 7: Der Finne
wird.«
Ratamo überlegte einen Augenblick. »Ich lass es sein. Eine Untersuchung der Schießerei ist sowieso unmöglich, weil das in Russland passiert ist. Und ich weiß ja nicht mal, ob sie uns mit den Schüssen umbringen oder nur aufhalten wollten. Vielleicht ist Forsman wirklich verrückt, und ein ›Schwert des Marschalls‹ existiert gar nicht. Ich …«
»Jetzt marschiert Marketta zurück ins Haus. Ich muss gehen. Übrigens, fast hätte ich vergessen, dir zu gratulieren. Marketta hat erzählt, dass Nelli einen Freund hat. Das ist ja unglaublich, aber daran sieht man, wie die Zeit vergeht.« Ketonens Stimme verklang im Äther, als die Verbindung abbrach.
Ratamo war schockiert, Nelli sollte einen Freund haben? Ketonen hatte sich bestimmt geirrt. Ein zwölfjähriges Mädchen war doch noch lange nicht alt genug, um auch nur halb im Scherz mit jemandem eine Beziehung zu haben. Zumindest nicht seine Tochter. Und warum hatte sich Nelli lieber ihrer Großmutter anvertraut als ihrem Vater? Sobald er seinen Urlaub fortsetzen konnte, würde er mit dem Mädchen darüber reden.
Rasch loggte er sich in das interne Netz der Polizei einund las seine neuen Nachrichten. Dann fragte er Riitta Kuurma per E-Mail, ob über die Region Jäniskoski in den letzten Tagen etwas Außergewöhnliches berichtet worden war, und bat seine Ex-Lebensgefährtin auch, den Geländewagen der »Ivalo-Guides« nach Finnland holen zu lassen.
Im Keller des Polizeigebäudes ging Ratamo kurz unter die Dusche und nahm dann Kurs auf das Restaurant »Salsa Orkidea«. Um ein Haar wäre er im Park an der Kirche mit einem Teenager zusammengestoßen, der einen Zwölferpack trug. Ratamos Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln, als ihm sein erster Schwips einfiel. Er hatte sich als Dreizehnjähriger am 1. Mai mit seinem Freund zwei Flaschen Bier und zwei Longdrinks mit Gin und Grapefruit geteilt. Zwei ihrer Kumpels hingegen hatten sich letztlich nur halb so viel Flüssigkeit hinter die Binde gekippt – eine Flasche Whisky. Die mystische Welt der Alkoholprozente war den Debütanten erst bei den Aussprachen nach der Magenspülung der beiden Whiskytrinker aufgegangen.
Wenig später betrat Ratamo das Speiserestaurant am südwestlichen Ende der Kauppakatu und erblickte Sutela und Taru Otsamo, die ganz ineinander versunken waren. Er bestellte am Tresen die Pizza, die sich am schnellsten zubereiten ließ, setzte sich neben Taru Otsamo, die ihr Bier schlürfte, und schaute Sutela mit ernster Miene an.
»Ich frage das jetzt ganz offen, da ich weiß, dass Otto Forsman psychische Probleme hat. Kann es sein, dass dein Vater geistig verwirrt ist und dich losgeschickt hat, etwas zu suchen, was nicht existiert?«
Sutela wirkte verlegen. »Vater hat in früheren Jahren unter Depressionen gelitten, sonst war da nichts Besonderes. Du würdest ja vielleicht auch eine Therapie brauchen, wenn du das Gleiche durchgemacht hättest wie er im Krieg. Schließlich hat er innerhalb weniger Jahre sowohl seine Eltern als auch beide Brüder verloren.«
Taru Otsamo zündete sich eine Zigarette an, warf Sutela einen aufmunternden Blick zu und lenkte das Gespräch in ruhigere Gewässer. »Noch mal zu dem Brief aus der Höhle. Stimmt es tatsächlich, dass Lenins Frau mit einem Finnen im Briefwechsel stand?«
Eerik Sutela runzelte die blonden Augenbrauen. »Ich habe nie etwas von einer Korrespondenz zwischen Nadeschda Krupskaja und Ahti Sirviö gehört, und ich glaube auch nicht, dass irgendein anderer Historiker davon gehört hat. Dennoch kann die Behauptung stimmen. Am Anfang des letzten Jahrhunderts war es den Menschen noch möglich, ihre Privatangelegenheiten geheimzuhalten, wenn sie es ernsthaft versucht haben.«
»Und das ›Schwert des Marschalls‹? Was für ein Dokument hätte denn Stalin angeblich vernichten können?« Taru beugte sich unmerklich immer näher zu Sutela hin. »Der Mann war doch ein Diktator, im Sowjetland durfte man ja ohne die Erlaubnis von Väterchen Stalin, dem Großen Führer, nicht mal Luft holen.«
Sutela zuckte mit den Achseln, holte dann die halbe Pizza, die auf Tarus Teller kalt wurde, auf seinen eigenen und wich den Blicken seiner Reisegefährten aus.
Im selben Augenblick wurde Ratamos Pizza serviert, die mindestens einen Zentimeter über den Tellerrand hinausragte. Er überzog sie mit einer Schicht aus Ketchup, Senf, Tabasco und Oregano, lud dann ein stattliches Stück Pizza auf seine Gabel und hob sie an den Mund. »Wer hat den Brief aus der
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