Arto Ratamo 7: Der Finne
alles wissen«, entgegnete er und dachte, dass für diese Aufgabe eben gerade ein unerfahrener, junger und idealistischer Priester gebraucht werde, der noch richtig und falsch voneinander unterscheiden könne. »Wir müssen diesen drei Finnen helfen, die den Hinweisen auf der Spur sind, sonst fällt dem FSB das ›Schwert des Marschalls‹ zu leicht in die Hände.«
»Sie haben Wichtigeres zu tun, als sich um derartige praktische Dinge zu kümmern«, sagte Furow und straffte sich. »Überlassen Sie das mir.«
»Das werde ich ganz gewiss tun. Du bist für die Beziehungen der Kirche zum FSB verantwortlich, als ehemaliger Diplomat kannst du mit ihnen umgehen. Es liegt in deiner Verantwortung, dass wir dieses Dokument finden.« Patriarch Wladimir II. erteilte Vikarbischof Furow die Erlaubnis, sich zu entfernen.
Der in Falten gelegte Saum der Mantia raschelte auf dem Marmorboden, als der Patriarch inmitten des Kirchenschiffs einen großen Kreis abschritt. Er dachte an den 7. Juni 1990, an das wichtigste Ereignis seines Lebens, den Augenblick, in dem er erfahren hatte, dass er vom Konzil zum Patriarchen gewählt worden war. Am selben Abend hatte er die irdische Hinterlassenschaft seines Vorgängers erhalten, des Patriarchen Adrian. Der Brief, in dem über ein Dokument namens »Opferbuch« berichtet wurde, hatte in einer verschlossenen Kassette ganz unten gelegen und ihm alles über dieses Dokument verraten, das seit dem sechzehnten Jahrhundert jeder geistliche Führer der russischen Kirche seinem Nachfolgervererbt hatte. Das »Opferbuch« war über Jahrhunderte die Lebensversicherung der russischen Kirche gewesen, die mit seiner Hilfe die Zeit des Kommunismus und viele andere Schrecken überstanden hatte. Es band die ewigen Kontrahenten – den russischen Staat und die russisch-orthodoxe Kirche – untrennbar aneinander, und wer es besaß, erlangte die Oberhand. Wenn das »Opferbuch« dem FSB und der derzeitigen Administration Russlands in die Hände fiele, hätte der Staat die Kirche im Würgegriff.
Irgendwo fiel eine Tür ins Schloss, und der Patriarch zuckte zusammen. Das Echo in der Kirche der Heiligen Väter glich dem einer Pauke. Ein ganzer Schwarm von Mönchen marschierte in das Kirchenschiff und begann mit den Vorbereitungen für die neunte Stunde und die Vesper.
Der Patriarch hatte Angst. Er war der einzige Mensch der Kirche, der wusste, was für eine unermesslich wertvolle machtpolitische Waffe das »Opferbuch« darstellte, der einzige, der alle damit zusammenhängenden Geheimnisse kannte. Nur er wusste, dass Patriarch Tichon das »Opfer buch « im Jahre 1918 Nikolai II. geliehen hatte, um dem Zaren bei der Unterdrückung der revolutionären Ideen zu helfen. Und dass Nikolai II. bei dem Versuch, Lenin mit dem »Opferbuch« zu erpressen, sowohl das Buch als auch sein Leben verloren hatte. Das Dokument war in die Hände des schlimmsten Feindes der Kirche gefallen, des russischen Staates.
Erst im Frühjahr 1945 war die Kirche dem »Opferbuch« wieder auf die Spur gekommen, als sich der finnische Vertraute von Lenins Frau Nadeschda Krupskaja, der in Karelien geborene orthodoxe Christ Ahti Sirviö, auf seinem Sterbelager in Moskau Vater Hilarion anvertraute. So erfuhr die Kirche, was mit dem Dokument geschehen war: Es war in Finnland umbenannt worden in »Das Schwert des Marschalls«.
Patriarch Wladimir II. wollte nicht, dass die Informationen des »Opferbuches« an die Öffentlichkeit gelangten, denn sie würden den Ruf Russlands ruinieren. Im Besitz der Kirche freilich wären die in dem Dokument enthaltenen Beweise gerade jetzt Gold wert. Mit seiner Hilfe wäre die Kirche vielleicht im Stande, die Absichten Präsident Bukins zu durchkreuzen und aus Russland eine echte Demokratie zu machen. Der Patriarch erinnerte sich nur allzu gut, wie das Leben unter der Sowjetdiktatur gewesen war, und er kannte die russische Geschichte gut genug, um zu verstehen, in welche Richtung Bukin seine Kirche und sein Heimatland führen wollte – in Richtung einer Diktatur. In einem Land, in dem demokratische Traditionen fast gänzlich fehlten, gelang das leider sehr leicht.
Der Patriarch warf einen letzten Blick auf die Gemälde der gewaltigen Ikonostase, schaute hinauf zum Kronleuchter und dachte, dass die Geschichte die Ironie besser beherrschte als jeder Mensch. In der kommunistischen Zeit hatten die Räume des Danilow-Klosters als Jugendgefängnis gedient, und jetzt wurde von hier aus die russische Kirche
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