Arto Ratamo 7: Der Finne
August
Der gepanzerte Pkw des Patriarchen Wladimir II. hielt vor dem Präsidentenpalast im Kreml. Der Patriarch, der den schwarzen Mantia-Umhang eines Mönchs und den weißen Klobuk trug, hatte auf der ganzen Fahrt vom Danilow-Kloster bis hierher darüber nachgedacht, was Vikar Furow seinerzeit in den Schoß der Kirche getrieben haben mochte. Furow sprach nie über seinen persönlichen Glauben, obwohl er zumindest eine Art religiöser Erweckung erlebt haben musste. Warum hätte er sonst Anfang der neunziger Jahre seine erfolgreiche Diplomatenlaufbahn aufgegeben, um an die Geistliche Akademie von Sankt Petersburg zu gehen?
Die hintere Tür des Wagens öffnete sich, der Patriarch stieg aus und betrachtete auf dem Staraja-Platz missbilligend die neoklassizistische Fassade des Gebäudes Nr. 14. Präsident Bukins Amtsräume befanden sich in der ersten Etage auf der Nordwestseite des gelb-weißen dreigeschossigen Hauses. Das Nonnenkloster der Auferstehung und das Tschudow-Kloster hatten diesem Gebäude 1929 weichen müssen. Seine Gedanken waren schon unterwegs düster geworden, am Palast des Patriarchen, dem Ort, an dem seine Vorgänger die russische Kirche vom Anfang des vierzehnten Jahrhunderts bis zum Jahre 1721 geleitet hatten.
Gleich würde der Präsident ihn einmal mehr demütigen, vermutete der Patriarch, als ihn die Sicherheitsleute in ihren dunklen Anzügen im Foyer des Präsidentenpalastes mit Metalldetektoren kontrollierten. Er stützte sich auf den Oberarm von Vikar Furow, während er die Stufen in dieerste Etage hinaufstieg. Dann tauchte Bukins unfreundliche Sekretärin auf und begrüßte ihn. Diesmal durfte er immerhin direkt zum Präsidenten gehen, nur Furow wurde ins Wartezimmer geführt.
»Eure Heiligkeit. Es ist sehr freundlich, dass Sie so kurzfristig kommen konnten.« Der kleingewachsene, drahtige und spröde Präsident Wadim Bukin sah aufrichtig erfreut aus.
»Unsere Zusammenarbeit ist für mich wie für die ganze Kirche ein Anlass zur Freude«, erwiderte der Patriarch, nickte und überlegte, was der Präsident wohl diesmal wollte. Er versuchte sich zu konzentrieren. Das Politisieren erforderte sowohl geistig als auch physisch viel Kraft, vor allem, wenn man einem Spieler von Bukins Format gegenüberstand.
Der Patriarch schaute hinaus auf den Roten Platz, bevor er sich setzte. In dem bescheiden eingerichteten Raum fiel das Porträt Peters des Großen ins Auge. Er überlegte, ob der Präsident wohl wusste, dass es gerade Peter der Große war, der 1721 den Patriarchen die absolute Macht in der Kirche entrissen hatte. Der nächste Patriarch wurde erst zweihundert Jahre später gewählt, 1917, in der Zeit des Kommunismus. Und er, Wladimir II., war der erste Patriarch eines freien Russlands.
»Ich wollte über den zeitlichen Ablauf unseres Planes sprechen oder ihn vielmehr endgültig festlegen. Bis wann ist die Kirche für jeden Bewohner der Russischen Förderation in Reichweite?«, fragte der Präsident, der sichtlich in guter Verfassung war, und schaute den Geistlichen von unten an.
»Unser Ziel, die Kirche wieder in ihrer Größe wie zur Zeit vor der Revolution erstehen zu lassen, ist außerordentlich ehrgeizig. Man darf nicht vergessen, dass Russland im Jahre 1914 über fünfundfünfzigtausend Kirchen und weit über hunderttausend Priester hatte. Wir sind …«
Bukin stand hinter seinem Schreibtisch auf, als wollte er den Patriarchen herausfordern. »Bis wann, Eure Heiligkeit? Wann wird die russische Kirche sagen können, dass sie größer ist als je zuvor?«
Der Patriarch beherrschte sich, obwohl »Zar« Bukins Aggressivität seine Geduld auf eine harte Probe stellte. »Wir nähern uns erfreulicherweise dem Ziel, Gemeinden gibt es schon über fünfundzwanzigtausend, geht das in diesem Tempo weiter, wird es vor Ende dieses Jahres in jedem Ort mit mehr als fünftausend Einwohnern mindestens ein Gebetshaus und einen Diakon geben.«
Bukin war so begeistert, dass er um ein Haar gegen den Globus gestoßen wäre, der auf dem Fußboden stand. »Ausgezeichnet. Damit haben wir genügend Zeit, die Vermarktung zu planen. Wir organisieren eine Serie gemeinsamer Auftritte: Der Patriarch und der Präsident – Staat und Kirche. Wir besuchen alle großen Städte: Nowosibirsk, Nischni Nowgorod, Jekaterinenburg, Samara, Omsk, Kasan, Tscheljabinsk, Ufa, Wolgograd, Perm … Das erste Mal in der Geschichte haben die Russen endlich zur gleichen Zeit sowohl ein demokratisch gewähltes Staatsoberhaupt als auch
Weitere Kostenlose Bücher