Arto Ratamo 7: Der Finne
durch, dachte sie, während sie auf das Fensterbrett kletterte.
Paula sprang hinaus und rannte los, da hörte sie hinter sich die Kleine Frau schreien. Sie konnte im Dunkeln nichts genau erkennen, nirgendwo war Licht. Zweige zerkratzten ihr die Arme, und die Beine und Schuhe wurden nass. Sie rannte schneller als je zuvor. Die Stimme der Kleinen Frau wurde leiser, das Gebüsch war so dicht, dass sie nicht richtig sehen konnte, wo …
Ihre Gedanken brachen ab, und blankes Entsetzen packte sie, als rundum alles plötzlich eiskalt wurde und über ihr die Wasseroberfläche zu sehen war. Sie versank …
Taru Otsamo sah Paula auf den reißenden Fluss zugehen und stürmte los. Sie rannte, was die Beine hergaben, der Abstand wurde kürzer, aber Paula stand schon bis zu den Knien im Wasser. Taru schrie aus vollem Halse, aber das Mädchen hörte sie nicht. Sie konnte ihr Tempo nicht beschleunigen, obwohl sie mit den Armen ruderte, ihre Beine wurden steif und die Luft ging ihr aus. Taru musste mit ansehen, wie Paulas Kopf in der Strömung verschwand, sie stürzte sich in den Fluss, tauchte ins Dunkle und sah, wie ein Unterwasserwirbel Paula mit sich riss und das Mädchen in die Tiefen des Ivalojoki zog …
Ein Schrei hallte durch das Zimmer im Hotel »Schwarze Katze« in Lahti, und Taru Otsamo fuhr auf dem Sofa hoch. Sie erschrak, als sie ihr entsetztes Gesicht im Spiegel über dem Schreibtisch erblickte. Es sah so aus, als wäre sie in den letzten Tagen um Jahre gealtert.
Taru schleppte sich ins Bad und ließ kaltes Wasser über ihre Stirn laufen. Es war erst elf Uhr abends, sie war angezogen auf dem Sofa eingeschlafen und hatte es verpasst, Paulas Entführer anzurufen. Die Bilder aus dem Albtraumkreisten immer noch in ihrem Kopf. Sie hatte es satt. Paula musste jetzt sofort freigelassen werden, sonst würde sich das Mädchen nie wieder erholen. Außerdem wollte sie ihre Eltern und Eerik nicht mehr belügen, das alles musste ein Ende haben.
Das Plastikgehäuse des Telefons knackte, als Taru zornig die Tasten drückte. Sie zündete sich eine Zigarette an und beschloss, dem Kidnapper die Meinung zu sagen. Der Rufton war zu hören. Sie legte sich die englischen Sätze im Kopf bereit, da meldete sich der Mann.
»Das Maß ist voll. Entweder du lässt meine Tochter frei oder …«
»Ihre Tochter ist weggelaufen«, sagte Major Rodion Jarkow so wütend, dass Taru verstummte. »Wir haben das Mädchen natürlich sofort eingefangen, aber es hätte auch anders ausgehen können. Das Gör war schon … in einen Teich neben seiner Unterkunft gefallen. Es war reines Glück, dass wir nicht zu spät gekommen sind.«
»Ist Paula in Ordnung?« Taru spürte ihren Herzschlag auf den Lippen.
Jarkow antwortete nicht auf die Frage. »Einigen wir uns darauf, dass Sie mit Ihrer Tochter sprechen können. Ich versuche das zu regeln. Vielleicht beruhigt das Ihre Tochter. Und Sie.«
»Wann?« Taru holte tief Luft. »Ich weiß nicht, wann ich telefonieren kann, wir fahren morgen früh sofort weiter.«
»Sie haben also einen neuen Brief gefunden? Wann gedachten Sie mir das mitzuteilen?« Jarkow hörte sich noch unfreundlicher an als bisher. »Zu welchem Steinhaufen lässt der Alte euch jetzt rennen?«
Taru berichtete dem Entführer kurz von dem Brief, den sie vor einigen Stunden gelesen hatte, von dem neuen Hinweis und Eerik Sutelas Erklärungen. Dann schwieg sie undüberlegte, ob sie auch die wichtigste Information weitergeben sollte.
»Rufen Sie sofort an, wenn Sie mehr erfahren«, sagte Jarkow und wollte das Gespräch schon beenden, als Taru Otsamo so laut rief, er solle noch warten, dass es in seinem Ohr weh tat.
»Das ist der letzte Hinweis, hat Eerik Sutela gesagt. Sie werden dieses verdammte ›Schwert des Marschalls‹ morgen bekommen«, verriet Taru, und Jarkow war plötzlich wieder sehr interessiert und wollte alles über den Hinweis von Onkemäki und das Versteck des Dokuments erfahren.
Nachdem Taru ausführlich erklärt hatte, was sie wusste, schaltete sie das Telefon aus, zündete sich eine Zigarette an und ließ sich auf das Sofa fallen. Ihr Verrat würde sowohl Eerik als auch Paulas Vater Leo sehr verletzen. Eerik war allzu gutherzig und Leo … Sie bereute es schon jetzt. Und noch etwas anderes bedrückte Taru: Hatte sie Paulas Entführer eben den Weg zu einem erschreckend wichtigen Dokument verraten oder ans Ende einer Geschichte, die sich ein alter verwirrter Mann ausgedacht hatte?
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Moskau – Helsinki, Freitag, 11.
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