Arto Ratamo 7: Der Finne
mit der Situation an der Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert. Damals wurden immer wieder auch Staatsoberhäupter ermordet: der französische Präsident Carnot, der spanische Ministerpräsident del Castillo, die österreichisch-ungarische Kaiserin Elisabeth, der italienische König Umberto, der US-Präsident McKinley … und in Russland war die Lage noch schlechter. Bei uns ermordete man …«
»Na, von diesen Morden habe ich schließlich auch gehört. Mach bei der Terroristenjagd in Paris weiter, wie hängt die mit dem ›Opferbuch‹ zusammen?«
»Um die Zarenmörder zu finden, hat die Ochrana Revolutionäre als Doppelagenten angeworben. Der berühmteste von ihnen, Arkadi Harting, bildete 1890 eine Gruppe und rüstete sie mit einer Bombe aus, ihre Aufgabe war es angeblich, die Idee der Revolution zu verbreiten. In Wirklichkeit beabsichtigte die Ochrana, die Gruppe zur Vernichtung des Stützpunktes von Narodnaja Wolja und des ›Opferbu ches ‹ einzusetzen. Keines der beiden Ziele konnte erreicht werden, das letztere deshalb nicht, weil die Mitglieder von Narodnaja Wolja das ›Opferbuch‹ nie auch nur gesehen hatten.«
Die Miene des Generals wurde ernst, als Olga Gusarowa ihren Bericht beendete. »Eine interessante Geschichte, aber völlig nutzlos. Wir brauchen das ›Schwert des Marschalls‹ und nichts anderes. Es muss gefunden werden, bevor die Sicherheitspolizei oder der britische Geheimdienst aufwacht. Ich empfehle, in Erfahrung zu bringen, was die Kirche von all dem weiß. Der Präsident sagt, der Patriarch habe einen seiner Untergebenen beauftragt, das ›Schwert des Marschalls‹ zu suchen. Ihr habt zwei Tage Zeit.«
Die Bildverbindung nach Moskau brach ab, und Rodion Jarkow ballte die Fäuste.
35
Helsinki, Samstag, 12. August
Der kahlköpfige Mann mit dem fleckigen Gesicht stand auf dem Aarteenetsijänpolku im Helsinkier Stadtteil Mellunmäki an einer Hauswand und beobachtete ein hundert Meter entferntes mehrstöckiges Gebäude. Das goldfarbene orthodoxe Kreuz an dessen blauen Wandfliesen weckte Erinnerungen, doch er war nur im Traum fähig, an diese Ereignisse zu denken. Im Erdgeschoss des blauen Plattenbaus hielt sich der alte Mann versteckt, in der kleinen Kirche der Heiligen Xenia von Sankt Petersburg, die der russisch-orthodoxen Kirche gehörte.
Als jemand ein paar Meter entfernt die Tür einer Grillbude öffnete, roch die »Flunder« den Gestank von ranzigem Fett und wandte sich der Tür zu, um in der Glasscheibe ihr Spiegelbild zu sehen. Das Feuermal auf der linken Wange wirkte, so unglaublich das auch schien, noch röter als sonst. Er drehte den Kopf so, dass er sein Profil erkennen konnte: Der spitzzulaufende und schmale Kopf und das einem Auge gleichende Mal ließen ihn tatsächlich wie eine riesige Flunder aussehen. Er mochte seinen Rufnamen, der Begriff »Flunder« weckte die Vorstellung von einem Menschen, der anders, der etwas Besonderes war. Bei der Arbeit eines Profikillers war das auffällige Aussehen natürlich nur von Nachteil, aber in seiner Freizeit genoss er es, sich von der Masse zu unterscheiden. Deswegen dachte er nicht einmal daran, sich die Feuermale entfernen zu lassen, obwohl heutzutage mit dem pulsierenden Farblaser gute Ergebnisse erzielt wurden.
Der untere Teil seines langen weißen Seidenhemdes flatterte, als er sich der Kirche der heiligen Xenia von Sankt Petersburg zuwandte und einmal mehr auf seine Uhr schaute. Er wartete schon stundenlang auf den geeigneten Moment. Sein Auftraggeber hatte bereits am frühen Morgen angerufen und mitgeteilt, wo sich der alte Finne befand. Er sollte diesmal besonders vorsichtig sein, niemand dürfte ihn sehen. Von allen, auf deren Rechnung er je getötet hatte, war dieser Auftraggeber vielleicht der eigenartigste, und das wollte etwas heißen, denn seine Klienten waren grundsätzlich gestört, einer schlimmer als der andere. Die übelsten Psychopathen versteckten sich oft hinter einer Fassade, die ihnen eine geachtete Stellung verschaffte. Jeder Mensch war ein Raubtier, aber nur die stärksten und begabtesten konnten ihre Artgenossen systematisch erbeuten.
Die Vorstädte sahen hier ähnlich aus wie in Moskau oder Grosny, dachte die »Flunder« beim Blick auf das Neubauviertel in Osthelsinki. Vielleicht waren die Häuser und Straßen sauberer und neuer, aber auch sie würden irgendwann verfallen, dafür sorgte die Zeit. Oder der Krieg. Alle Städte, Dörfer und Siedlungen der Welt waren wie riesige Fällungsbecken,
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