Arztromane
weiß, wo ich sonst hin sollte an diesem schrecklichen Tag. Ein Glücksfall, denn Yoomee, der Indianer, zieht mich in seinen Bann ...
Draußen regnet es Bindfäden und hier drinnen, im Hamburger Museum für Kunst und G e werbe ist es dunkel. Stille, leises Stimmengemurmel, das Geräusch von Schritten, alles g e dämpft durch die großen Säle und langen Gänge.
Diese Atmosphäre hat mich schon immer bedrückt, doch heute macht es mir nichts aus, denn schlimmer als es in mir aussieht kann es nicht mehr werden. Genau ein Jahr ist es nun her, dass Andre von mir gegangen ist. Er starb und mit ihm auch ich. Ich fühle mich leer, wie eine Hülle, der jedes menschliche Leben entzogen wurde.
Andre hatte ein schwaches Herz, es hat eines Tages plötzlich aufgehört zu schlagen, so ei n fach war das. Wir waren Seelenverwandte, unendlich glücklich, doch wir wussten immer um das Risiko, weshalb wir jede Stunde miteinander genossen haben , doch im Nachhinein war selbst das nicht genug. Nichts hätte je ausreichend sein können, um mich für den Rest me i nes einsamen Lebens erfüllen zu können.
Im Saal zwölf soll sich seit gestern die naturgetreue Ausstellung eines Indianerzeltes befi n den, der Grund, weshalb ich heute hergekommen bin. Ich irre durch die Gänge, folge dem anwachsenden Stimmengemurmel und finde schließlich den entsprechenden großen Raum.
In der Mitte ist ein Tipi aufgestellt, dessen Durchmesser ungefähr fünf Meter betragen muss. Es reicht bis ganz unter die Decke, ist so breit wie hoch. Ein unglaublicher Anblick. Der Saal ist gut besucht, außer mir müssen sich hier noch mindestens dreißig Besucher befinden, die umherspazieren und die Ausstellungsstücke betrachten.
Mich interessiert aber nichts von alldem, denn ein Mann zieht meinen Blick an und lässt mich nicht mehr los. Er ist größer als ich, wohl an die eins neunzig, hat lange, tiefschwarze Haare, die am Hinterkopf zusammengerafft sind. Eine einzelne Feder hängt in dieser dunklen Flut. Sein Profil ist kantig, die Nase sehr gerade und wenn nicht diese sensibel wirkenden Lippen wären, hätte er aus Stein gemeißelt sein können.
Der Mann trägt eine Art Ledertunika, darunter lederne Beinlinge und an den Füssen Moka s sins. Eine lange Kette aus elfenbeinfarbigen Röhrchen ist sein einziger Schmuck, aber mehr braucht er auch nicht. Dieser Kerl ist eine Augenweide, doch nicht nur das fesselt mich , es ist vielmehr seine Art sich zu bewegen.
Wie ein Raubtier sieht es aus wenn er läuft, geschmeidig und sicher. Seine Gesten sind r u hig, bestimmt und sparsam, ganz so, als wenn er mit seinen Kräften haushält. Ich stehe wie gebannt und glotze den Mann an, Minuten oder Stunden? Keine Ahnung, es ist auch egal.
Von ihm geht ein Strom aus, der mich ruhig werden lässt, den Schmerz einkapselt und das erste Mal seit langer Zeit fühle ich so etwas wie Gelassenheit. Irgendwann wandert der Blick des Mannes zu mir und für einen Moment starren wir uns an, bis sich seine Mundwinkel leicht nach oben biegen, fast unmerklich, doch ich kann es sehen.
Er kommt auf mich zu, schleichend und langsam, aber ohne Zögern. Einen Meter vor mir bleibt er stehen, scheint auf etwas zu warten und sein Blick ruht gespannt auf mir. Das wird mir nun doch etwas unangenehm, weshalb ich mich räuspere und ein leises ‚Hallo‘ hervo r bringe.
„Hallo, ich bin Yoomee. Hast du eine Frage?“
Ich weiß sofort, dass er nicht die Ausstellungstücke meint, sondern etwas ganz anderes. Dieser Mann kann tief in mich reingucken, was mich einerseits verwirrt, andererseits fühle ich mich dadurch weniger einsam.
„Dein Name … Was bedeutet er?“
Yoomees Lippen verziehen sich zu einem klaren Lächeln, was seinem Gesicht etwas überi r disch Schönes verleiht. Von Nahem ist nun auch zu erkennen, dass er die Dreißig weit hinter sich gelassen haben muss, denn feine Lachfältchen haben sich in seinen Augenwinkeln ei n genistet.
„Er bedeutet ‚der Stern‘, in der Sprache meiner Urahnen. Wie heißt du?“
„Martin“, antworte ich und schäme mich für einen derart profanen Namen, aber Yoomee nickt stumm, ihm scheint er zu gefallen.
„Der Krieger. Ein schöner Name, doch im Augenblick sehe ich hier keinen Krieger, sondern einen verzagten Mann.“
Das ist zu viel. Ich glotze wenige Sekunden, dann mache ich auf dem Absatz kehrt und eile davon. Erst nach ein paar Metern verringere ich das Tempo, doch das Gefühl auf der
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