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Arztromane

Arztromane

Titel: Arztromane Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sissi Kaipurgay
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Flucht zu sein bleibt.
     
    Den ganzen Abend, selbst die ganze Nacht gehen mir Yoomees Worte nicht mehr aus dem Sinn. Bin ich das, ein verzagter Mensch? Eigentlich nehme ich mich als stark wahr, schlie ß lich habe ich Andres Tod verkraftet, oder etwa nicht? Eine leise Stimme in mir flüstert, dass ich weit  davon  entfernt bin, sein Ableben überwunden oder gar akzeptiert zu haben. Ich ign o riere sie,  doch  sie wispert weiter.  
     
    Der folgende Tag, ein Sonntag, ist sonnig und mild. Nachdem ich kaum Schlaf gefunden habe fühle ich mich müde, dennoch zieht es mich wieder zum Museum. Am frühen Nachmi t tag betrete ich die heiligen Hallen und strebe zielsicher den Saal mit dem Tipi an. Heute ist noch mehr los als gestern und der Blick auf Yoomee  wird mir  durch die  vielen  Besucher  ve r wehrt .  
    Ich wende mich den Exponaten zu, studiere jedes gründlich, doch mein Blick wandert immer wieder zu dem schwarzhaarigen Mann, der geduldig die Fragen der Leute beantwortet. Es scheint, als würden seine Augen dabei ständig auf mir ruhen, doch das ist sicher Einbildung, ein Hirngespinst, hervorgerufen durch meine überreizten Nerven.
     
    Ungefähr eine Stunde bevor das Museum schließt wird es endlich ruhiger. Viele der Bes u cher haben den Saal verlassen, wohl um das schöne Wetter noch ein wenig zu genießen. Das hatte ich eigentlich auch vor, doch Yoomees Anziehungskraft ist stärker als die Sonne n strahlen.  
    „Hallo Martin.“
    Erschrocken fahre ich herum. Gerade habe ich ganz versunken ein Kalumet angeglotzt, o h ne es richtig wahrzunehmen und war tief in Gedanken. Yoomee steht vor mir und lächelt.  
    „Ich mache gleich Feierabend und wollte noch ein wenig an die Alster zum Spazierengehen. Magst du mich vielleicht begleiten?“
    Verdattert gucke ich ihn an, versuche zu begreifen und nur ganz langsam rieselt seine Einl a dung in mein Bewusstsein. Meine Mundwinkel zucken, ziehen sich zu einem Lächeln hoch, eine ungewohnte Bewegung.  
    „Gern“, antworte ich spontan.
    „Dann warte doch bitte am Ausgang auf mich, ich muss mich noch umziehen.“ Yoomee nickt mir zu und verschwindet irgendwo hinter dem Tipi, während ich langsam den Saal verlasse und durch die Gänge trotte.
     
    Yoomee erscheint fünf Minuten später vor der Tür. Er trägt Jeans, ein blaukariertes Hemd und hat die Haare zu einem Zopf gebunden. In der anderen Kleidung gefiel er mir gut, so sieht er aber auch umwerfend aus. Ich probiere wieder ein Lächeln,  doch irgendwie habe ich das im vergangenen Jahr ein wenig verlernt.  „Steht dir gut“, meint Yoomee und als ich fr a gend die Augenbrauen hebe ,  fügt er hinzu: „Du siehst nicht so traurig aus, wenn du die Mundwinkel hochziehst.“  
    „Das soll ein Lächeln darstellen“, beschwere ich mich und fühle mich regelrecht beschwingt in seiner Gegenwart.
    „Ist schon in Ordnung“, meint er und blickt die Straße hinunter. „Wollen wir losgehen?“
     
    Schweigend laufen wir nebeneinander den Glockengießerwall hinunter, vorbei am Haup t bahnhof und an dem anschließenden Parkplatz. Die Binnenalster ist bei diesem Wetter gut besucht, weshalb wir die Außenalster anstreben. Dort tummeln sich zwar auch die Spazie r gänger auf den Wegen, aber es ist mehr Platz für alle.  
     
    „Bist du ein echter Indianer?“ Ich habe die Hände in den Hosentaschen vergraben und schlendere neben Yoomee einher.
    „Wenn du meine Abstammung meinst: Ich bin ein Halbblut. Meine Mutter stammt von hier.“
    „Dann hast du nie bei deinem Stamm gelebt?“
    „Doch. Bis ich sechzehn wurde haben wir in einem Reservat gelebt, dann trennten sich me i ne Eltern und meine Mutter nahm mich mit nach Deutschland.“  
    „Das war bestimmt schlimm für dich“, bemerke ich mitfühlend.
    „Einerseits schon, allerdings konnte ich Deutsch, was mir den Einstieg hier erleichterte. A n dererseits war es auch eine Art von Befreiung.“  
    „Wie meinst du das?“ Ich bleibe stehen und schirme die Augen gegen die niedrigstehende Sonne mit der Hand ab, während ich Yoomee erstaunt anschaue.
    „Ich gelte bei meinem Stamm als ‚two spirit‘, was mir gewisse Restriktionen auferlegte“, an t wortet er, ohne dass seine Miene irgendetwas von seinen Gefühlen verrät.  
    „Bedeutet das Schamane oder besonders begabt? Entschuldige, aber davon habe ich noch nie gehört.“
    „Schwul. Ich bin schwul, lieber Martin.“
    Einen Moment gucke ich ihn starr an, dann zieht es meine Mundwinkel zu einem echten

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