Ascalon – Das magische Pferd, Band 1: Ascalon – Das magische Pferd. Die Wächter des Schicksals (German Edition)
Zeit über gewusst, dass er irgendwann zu Madame de Chevalier zurückkehren musste. Aber doch nicht so bald. Doch nicht schon übermorgen. Muriel ballte die Fäuste. Davon, dass der Abschied so nah war, hatte ihre Mutter nie etwas gesagt.
Bald , hatte sie stets betont. Bald, wenn es ihm besser geht. Aber das Bald, daran hatte sie nie einen Zweifel gelassen, würde erst in ein paar Wochen oder erst im nächsten Monat sein. Wie hätte Muriel denn ahnen können, dass es so bald war?
Ohne sich eine Jacke anzuziehen, stürmte sie aus dem Haus und lief zum Patientenstall hinüber. Wenn sie Ascalon so schnell hergeben musste, dann würde sie von nun an nicht mehr von seiner Seite weichen. Sie würde bei ihm bleiben, Tag und Nacht – und niemand würde sie daran hindern können.
Ascalon schien ihren Kummer zu spüren. Er reckte ihr den Kopf über die Boxentür hinweg entgegen und stupste sie sanft mit den weichen Nüstern an, als sie schluchzend den Arm um seinen Hals schlang und die Tränen fließen ließ.
»Ich lasse dich nicht gehen«, schluchzte sie. »Ich lasse nicht zu, dass sie dich mir wegnehmen.«
Ascalon stand ganz still. Muriel hörte seine leisen Atemzüge und spürte sein warmes weiches Fell an ihrer Wange. Sie fühlte sich ihm so nahe wie noch nie. Sie wusste, dass er ihren Kummer spürte, und glaubte zu erkennen, dass auch er traurig war.
Und dann geschah es: Eine sanfte Berührung ihres Bewusstseins weckte ihre Aufmerksamkeit und rief in ihr ein fast schon vertrautes Bild hervor:
Die Frau aus den Nebeln stand jetzt unmittelbar vor ihr. Schatten verhüllten ihr Gesicht, aber diesmal hatte Muriel keine Angst. Im Gegenteil. Eine leise Stimme flüsterte ihr zu, dass die Frau nichts Böses im Sinn hatte. Sie war ihre Freundin, gekommen, um zu helfen.
»Ascalon ist dein.« Wie ein Flüstern floss die Stimme aus den Schatten unter der weiten Kapuze hervor. »Was zusammenfand, darf nicht getrennt werden.«
»Aber sie kommen ihn holen!« Muriel glaubte zu rufen, fühlte aber zugleich, dass ihr kein Ton über die Lippen kam.
Wie war das möglich?
Die Frau wich schwebend zurück.
»Hab Vertrauen«, raunte sie ihr aus der Ferne noch einmal zu, während ihre Gestalt langsam mit den Nebeln verschmolz. »Hab Vertrauen.«
»Muriel!« Der strenge Tonfall ihrer Mutter ließ Muriel herumfahren. »Muriel, was soll das? Du benimmst dich wie ein kleines Kind – schlimmer als Vivien.« Renata Vollmer blickte ihre Älteste kopfschüttelnd an und fuhr dann etwas sanfter fort: »Ich weiß, dass du Ascalon sehr ins Herz geschlossen hast und mache mir deshalb große Vorwürfe. Es war nicht richtig überlegt von mir, dich mit seiner Pflege zu betrauen. Ich hatte nur das Wohl des Pferdes im Auge und nicht bedacht, was das für dich bedeutet. Andererseits bist du aber auch alt genug, um zu verstehen, dass die Tiere, die hierherkommen, nichts weiter sind als Patienten, denen wir helfen müssen. Wir dürfen uns mit unseren Gefühlen nicht zu sehr an sie binden, ganz gleich, wie lange sie hier sind. Irgendwann gehen sie fort und es kommen neue. Das war schon immer so und wird auch immer so bleiben. Sie gehören uns nicht, aber wir können uns damit trösten, ihnen geholfen zu haben, damit sie wieder ein gutes Leben führen können.«
»Das verstehst du nicht!«, fuhr Muriel ihre Mutter mit bebender Stimme an. »Ascalon ist nicht einfach nur ein Patient. Er ist etwas ganz Besonderes.«
»Für dich vielleicht.« Renata Vollmer sprach betont ruhig. »Für mich ist und bleibt er ein Patient. Sein Aufenthalt hier kostet Madame de Chevalier eine Menge Geld. Ich kann es nicht gutheißen, aber ich kann auch verstehen, dass sie die Behandlung nicht unnötig lange hinauszögern will. Ich bitte dich also inständig, vernünftig zu sein und keinen Aufstand zu machen, wenn sie am Sonntag kommt, um ihn abzuholen – o.k.?«
»Keine Sorge, ich schließe mich in meinem Zimmer ein.« Verbitterung schwang in Muriels Worten mit. Sie atmete tief durch, schloss die Augen und legte die Stirn an Ascalons Hals. »Es hat doch alles keinen Sinn.«
»Doch, den hat es!« Renata Vollmer trat näher und strich mit der Hand sanft über Muriels Arm. »Ascalon ist auf einem guten Weg. Das allein zählt. Bei guter Pflege wird er sicher nicht wieder rückfällig werden. Es tut mir wirklich leid, dass ich dir damit solchen Kummer bereite, Liebes. Du hast so viel für ihn getan. Ohne deine Hilfe wäre er vermutlich …« Sie verstummte und fuhr dann fort:
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