Ascalon – Das magische Pferd, Band 2: Ascalon – Das magische Pferd. Das Geheimnis der Maya (German Edition)
stamme aus Uaxacdun. Aber jetzt arbeite ich für die Priesterschaft in Tikal.« Der Stolz, der in den Worten mitschwang, machte deutlich, dass die Tätigkeit ein Privileg sein musste. »Meistens jage ich Vögel.« Ah Hunahpu hob den Truthahn in die Höhe und ließ das Gefieder im Sonnenlicht schimmern. »Das kann ich wirklich gut. Es ist eine Kunst, den Vogel so zu töten, dass die Federn nicht von Blut verklebt werden. Die bunten sind bei den Federwerkern besonders begehrt.«
Sie hatten den Rand der Lichtung erreicht. Ah Hunahpu schlüpfte als Erster durch eine Lücke im Dickicht. Muriel folgte ihm. Sie rechnete fest damit, im Wald ein undurchdringliches Dickicht vorzufinden, und war überrascht, dass es dort einen richtigen Pfad gab, der in den Dschungel hineinführte. Offenbar kamen die Jäger aus Tikal oft hierher, um Beute zu machen.
»Ich habe gesehen, wie du den Truthahn geschossen hast«, sagte sie, weil sie sich gern noch ein wenig unterhalten wollte. Sie hoffte, dass Ah Hunahpu ihr noch ein wenig mehr erzählen würde, und wollte die Chance nicht ungenutzt verstreichen lassen. »Es war ein guter Schuss.«
»Nicht gut genug.« Ein Schatten huschte über Ah Hunahpus Gesicht. »Truthähne sind leicht zu fangen«, sagte er fast ein wenig traurig. »Die älteren Jungen gehen auf Quetzaljagd*. Das ist schwer.« Seine Stimme gewann etwas an Zuversicht, als er hinzufügte: »Xoc Abna sagt, wenn ich etwas älter bin, darf ich auch Quetzals jagen.«
»Wie alt bist du denn?«, erkundigte sich Muriel, die nicht wusste, was Quetzals waren, und daher bei einem möglichst unverfänglichen Thema bleiben wollte.
Ah Hunahpu überlegte kurz, zählte etwas an den Fingern ab und sagte dann: »Heute ist es genau neun tun *, drei uinal* und achtzehn kin* her , dass ich das Licht der Sonne zum ersten Mal erblickte.«
Muriel sah den Mayajungen verwundert an. Tun, uinal und kin sagten ihr gar nichts. Und wie ein Neunjähriger sah Ah Hunahpu nicht gerade aus. Offenbar ließ sich die Zeitrechnung der Maya nicht so einfach auf den ihr bekannten Kalender übertragen. Sie wagte jedoch nicht nachzufragen, weil sie sich nicht durch ihre Unwissenheit verraten wollte. Aber es war bereits zu spät, denn schon mit der Gegenfrage brachte Ah Hunahpu sie in arge Bedrängnis. »Und wie alt bist du?«, erkundigte er sich.
Muriel schluckte. Was sollte sie sagen?
»Willst du es mir nicht sagen oder weißt du es nicht?« Ah Hunahpu blieb stehen und schaute sie aufmerksam an. Muriel erkannte eine Spur des alten Misstrauens in der Stimme und bekam es mit der Angst. Ihre unverfängliche Frage war jäh zu einer Prüfung geworden.
»Warte, ich muss erst nachrechnen«, sagte sie, um Zeit zu gewinnen. Indem sie die Gesten des Jungen nachahmte, tat sie, als ob sie auch an den Fingern etwas abzählte, während sie versuchte, sich eine Altersangabe auszudenken, die wenigstens halbwegs glaubhaft war.
Er ist sicher etwas älter als ich, überlegte sie, nahm allen Mut zusammen und sagte: »Wenn ich mich nicht irre, sind es acht tun, fünf uinal und zehn kin. «
»Acht tun .« Ah Hunahpu nickte und entspannte sich. Offenbar war es die richtige Antwort gewesen, denn er ging weiter, ohne noch einmal nachzufragen.
Muriel atmete auf und nahm sich vor, künftig nicht so leichtfertig mit ihren Fragen zu sein. Zu leicht konnte es geschehen, dass sie sich mit einer unbedachten Äußerung verriet oder sich, wie eben, in eine unangenehme Situation brachte. So beschränkte sie sich für die nächste halbe Stunde darauf, schweigend hinter dem Mayajungen herzugehen, bis dieser auf einmal stehen blieb.
»Sieh!«, sagte er mit einem Anflug von Ehrfurcht in der Stimme und deutete auf eine Lücke zwischen den Bäumen, hinter der das weiße Gestein eines Gebäudes im Sonnenlicht erstrahlte. »Wir sind da. Da vorn ist Tikal.«
Tikal
Muriel folgte Ah Hunahpu aus dem Dickicht auf eine gerodete Fläche hinaus, blinzelte in das nachmittägliche Sonnenlicht und erstarrte in Ehrfurcht. Mitten im Dschungel, so groß, dass sie die Ausmaße mit bloßem Auge gar nicht erfassen konnte, standen nicht einfach nur ein paar Pyramiden und Tempel. Vor ihr lag eine riesige Stadt.
Und was für eine.
Es gab weitläufige Tempelanlagen und prachtvolle Paläste aus weißem Stein, zwischen denen sich stolz die gewaltigen Stufenpyramiden erhoben, deren Spitzen sogar das Blätterdach des Dschungels noch überragten. Die majestätischen Bauten standen auf einem flachen Hügel und bildeten das
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