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Asche und Phönix

Asche und Phönix

Titel: Asche und Phönix Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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nur noch eine Ecke unter all dem Grün hervor, ein Stück der Fassade und des Giebels. Eine der beiden Sicheln war mit Mühe zu erahnen, nur ein halbrunder Pinselstrich aus schwarzer Farbe.
    Ernüchtert nahm er das Fernglas herunter und gab es ihr zurück. »Keine Ahnung, wie ich darauf gekommen bin, darin Monde zu sehen.«
    »Könnten es auch zwei Hörner sein?«
    »Monde, Hörner, Fangzähne … Früher kamen sie mir jedenfalls eindrucksvoller vor.«
    Ihre Hände streiften einander auf dem Geländer, nur eine Sekunde lang. »Da warst du eben noch ein Kind.«
    »Heißt das, meine Stofftiere haben auch nie da oben gewohnt?«
    »Ich würde keine Wetten darauf abschließen.«
    Er wandte sich ihr zu, um sie anzusehen. Unverhofft fragte er sich, was einmal aus ihr werden würde. Es erstaunte und irritierte ihn, dass ihr weiteres Leben ihn viel neugieriger machte als sein eigenes. Er konnte sich nicht erinnern, dass ihm das bei irgendwem schon einmal so gegangen war. Sie war eine Kriminelle, ein wenig verrückt, anscheinend zufrieden mit ihrer Einsamkeit – und sie verstand sich hervorragend darauf, andere Menschen auf Distanz zu halten, auch ihn. Er kam einfach nicht dahinter, wie sie das anstellte.
    Doch während er noch an Distanz dachte, stellte sie sich auf die Zehnspitzen und ihr Gesicht näherte sich seinem. Bislang hatte er nicht einmal wahrgenommen, dass sie ein gutes Stück kleiner war als er. Er hatte immer nur ihren Mund und ihre Augen angesehen, ihre Sommersprossen, die kleine, spitze Nase, die vorn ein wenig nach oben gebogen war.
    Ihre Lippen fühlten sich warm an, trocken vom Wind, der durch das Tal wehte und den Geruch von Staub und Baumrinde mit sich brachte. Vorsichtig berührten seine Hände den Stoff ihrer weiten Bluse, schoben ihn langsam zusammen, bis sie sich um ihre Taille legten. Für einen Moment vergaß er seinen Vater und Libatique und Chimena, spürte nur ihren Körper unter seinen Fingerspitzen und die Wärme, die an seinen Armen emporwanderte.
    Er hatte sich nicht vorgestellt, dass Ash je den Wunsch haben könnte, ihn zu küssen. Sie kannten sich kaum, er wusste so gut wie nichts über sie. Ihm war nicht mal bewusst gewesen, dass sie ihn mochte. Es fiel ihm schwer genug, sich selbst zu mögen, und er fragte sich, was er getan oder gesagt hatte, das ihn in ihren Augen mehr wert sein ließ als in seinen eigenen.
    Ihre Zungenspitzen berührten sich ganz zaghaft, und dann war ihre auch schon wieder fort, ihre Lippen lösten sich von seinen, aber ihr Lächeln blieb, die kleinen Vertiefungen rechts und links ihrer Mundwinkel, das kupferne Blitzen in ihren Augen.
    »Wofür war das denn?«, fragte er.
    »Für dich. Und für diesen Ort. Dieses Tal. Für den Wind und die Wälder und das alte Haus da oben auf dem Berg. Ich will euch alle besser kennenlernen.«
    »Uns?«
    »Dich vor allem.«
    »Bis vor zwei Tagen hab ich selbst nicht mal gewusst, wo der echte Parker aufhört und der falsche beginnt.«
    Sie schüttelte sanft den Kopf. »Den falschen kenne ich gar nicht. Nur dich.«
    Er zog sie heran und diesmal waren sie wagemutiger, neugieriger und der Kuss dauerte länger und war viel intensiver.
    Jemand räusperte sich.
    »Mister Cale?«
    Ash machte hastig einen Schritt von ihm fort, als wäre sie schon wieder bei einem Diebstahl ertappt worden. Beide blickten zur Treppe, die hinunter ins Haus führte.
    »Mister Cale, Ihr Vater schickt mich.« Es war einer der Wachleute, nicht der aus dem Zwinger, obgleich sie Brüder hätten sein können. Wuchtig gebaut, fast kahl rasiert, in schwarzem Overall.
    »Was will er?«
    »Er möchte mit Ihnen sprechen. Mit Ihnen allein, Mister Cale. Es sei sehr dringend, hat er gesagt.«
    »Geh ruhig«, sagte Ash. »Deshalb sind wir hergekommen. Ich warte hier, wenn ich darf.«
    Er versuchte, in ihrem Blick zu lesen, ob es ihr wirklich nichts ausmachte, aber sie schien sich wieder zu verschließen. Hoffentlich nur, weil der Wachmann sie beobachtete.
    »Ich kann ihn warten lassen.«
    Sie schüttelte den Kopf. »Sprich mit ihm. Umso schneller kannst du mich zur Küste bringen.«
    Die Ungewissheit war wie ein Krampf in seinem Magen. Bereute sie den Kuss schon wieder?
    Ein Lächeln flatterte um ihre Mundwinkel. »Vielleicht kannst du mir ein paar von den Stellen zeigen, die du besonders magst.«
    Er hob eine Hand, streichelte ihre Wange und freute sich, dass sie es zuließ. »Ich bin gleich zurück. Es dauert nicht lange.«
    »Ich lauf dir nicht weg.«
    Er gab ihr einen

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