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Asche und Phönix

Asche und Phönix

Titel: Asche und Phönix Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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ahnte, wohin er führte.
    Wie weit sie darauf mit dem Motorrad kommen würde, war ungewiss. Der Pfad führte sanft bergauf und von der Straße aus schien es, als könnte es klappen. Aber sie hatte keine Ahnung, wie es hinter der nächsten Biegung aussah. Trotzdem bremste sie ab, zog den Lenker vorsichtig herum und bog in die Schneise aus festgebackenem Erdreich. Die letzten Regenfälle hatten eine glatte, lehmige Rinne daraus gemacht; während der langen Trockenzeit war sie hart geworden wie Beton.
    Sie befürchtete, dass das Röhren des Motors im ganzen Tal zu hören war, setzte aber darauf, dass niemand die Richtung zuordnen konnte. Der Pfad führte in weitem Bogen bergauf, sonnenfleckig, wo sich die Baumkronen dann und wann lichteten, ansonsten durch dichten Schatten. An einigen Stellen wurde die Schneise so eng, dass sie fürchtete, die Maschine könne sich in den Zweigen verfangen.
    Schließlich öffnete sich vor ihr ein kleines Hochplateau, überwuchert von Buschwerk, eingerahmt von verkrüppelten Eichen und Kakteen. Links von ihr, oberhalb des Tals der Cales, stand das Mondhaus.
    Die braune Bruchsteinmauer schaute zwischen Ästen und Kletterpflanzen hervor – wie ein Tempel in einem Dschungel am Ende der Welt. Vor dem Eingang hing ein Vorhang aus blattlosen Pflanzen; abgestorbener Efeu oder wilder Wein. Neben der Tür standen Überreste verkümmerter Brennnesseln.
    Ash schaltete den Motor aus. Mit zittrigen Beinen stieg sie ab und bemerkte erst jetzt, welche Anstrengung es sie gekostet hatte, sich im Sattel zu halten. Sie warf sich den Rucksack über, zögerte beim Anblick der Waffe, ließ sie dann aber mit der Mündung nach unten in der Gepäckkiste stecken. Falls Parker Recht behielt, lebten hier nur die Verwandten seiner Stofftiere. Sie musste lächeln, aber das verging ihr, als sie sich vorstellte, dass hinter den leeren Fensteröffnungen ein Rudel verstümmelter Puppen aus schimmeligem Stoff und verfaultem Fell auf sie wartete.
    Das Mondhaus war zweigeschossig, was sie von unten aus nicht hatte erkennen können. Auf der Plateauseite war das Dach eingestürzt, die Balken rußgeschwärzt; jener Teil, der zum Tal wies, schien noch intakt zu sein. Hier musste einmal ein Feuer gewütet haben, vielleicht vor langer Zeit. Ash fragte sich, wer die Flammen gelöscht hatte.
    Statt das Haus durch den Rankenvorhang zu betreten, umrundete sie es erst einmal. An der Nordseite waren Trümmer eines Schuppens zu erkennen, mehr als ein paar Balken und Bretter waren nicht übrig. Eine verwunschene Stille lag über dem Ort, selbst die Zikaden waren verstummt. Einmal knackte es rechts von Ash im Geäst, aber als sie herumfuhr, war niemand da. Was, wenn sie zum Motorrad zurückkehrte und der Griff der Flinte nicht mehr aus der Kiste ragte?
    Aus einem der Fenster im ersten Stock hing eine Kaskade verholzter Ranken. Auch an der Rückseite waren Kletterpflanzen über die Wände gekrochen. Der Anblick erinnerte an anatomische Zeichnungen, an einen mächtigen Muskel, ein versteinertes Herz.
    Die beiden Sicheln im ersten Stock sahen von nahem nicht mehr wie Hörner aus. Tatsächlich eher nach Monden, jeder zwei Meter lang. Die schwarze Farbe war an den Rändern die Mauerfugen herabgelaufen.
    Zwischen den Sicheln befand sich ein Fenster. Vom Boden aus erkannte Ash ein Stück Zimmerdecke im Schatten und daran ein Netz aus dunklen Strängen, noch enger verwoben als an der Außenseite, vielleicht weil die Gewächse im Dunkeln besser gediehen als im Sonnenschein.
    Wenn sie herausfinden wollte, was sich gerade rund um die Villa tat, musste sie dort hinauf. Sie kämpfte sich durch das brüchige Dickicht zurück zur Vorderseite, warf einen Blick auf das Motorrad – alles an Ort und Stelle, auch das Gewehr – und näherte sich dem Eingang. Sie streckte die Hände durch den Vorhang aus Ranken, um ihn zu teilen, aber es war schwerer, als sie erwartet hatte. Die Stränge waren so holzig, dass sie ein paar davon zerbrechen musste, um eine Öffnung zu schaffen. Schließlich drückte sie sich seitlich hindurch, verhedderte sich mit dem Riemen des Rucksacks, bekam ihn aber wieder frei. Die Erschütterungen, die sie dabei verursachte, schienen den gesamten Rankenkokon erbeben zu lassen. Rascheln erklang von allen Seiten, auch aus dem Inneren.
    Beklemmung erfüllte sie, als sie einen Schritt über die Schwelle machte. An der linken Wand führte eine Steintreppe hinauf in den ersten Stock. Rechts wies ein Durchgang in ein kleines Zimmer. Ein

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