Ascheherz
über deinen Verfolger erzählst, stirbst du auf jeden Fall, falls er dich findet.«
Summer fuhr zusammen. Jedem anderen hätte sie diesen Satz übel genommen, aber das hier war Anzej mit seiner entwaffnend ehrlichen Art, die keine Umwege kannte.
»Danke, dass du mich daran erinnerst«, murmelte sie niedergeschlagen. »Aber hier geht es nicht darum, zwischen zwei Toden zu wählen, verstehst du das?«
Er antwortete nicht. Und Summer lernte in diesem Moment, dass Schweigen sehr viele Sätze enthalten konnte.
»Du hast doch nicht etwa davon gewusst, dass in deiner Heimat Krieg ist?«, fragte sie. »Setzt du unser Leben einfach so aufs Spiel?«
»Was willst du jetzt von mir hören?«, sagte er mit harter Stimme. »Ich war gefangen, Summer! Viele Jahre lang! Glaubst du, im Bergwerk hat uns irgendjemand Nachrichten gebracht?« Und leiser fügte er hinzu: »Was denkst du wohl, wie es mir gerade geht? Glaubst du, ich bange um niemanden? Glaubst du, ich frage mich nicht, was aus den Menschen wird, die ich in meiner Heimat kannte?« Er schluckte schwer und sagte mit heiserer Stimme: »Du bist nicht die Einzige, die auf der Flucht ist. Ich muss fort von hier, Summer.«
Der Dämon, den sie nur manchmal über seine gequälten Züge huschen sah, ließ ihn verloren aussehen. Noch verlorener als sie - und vielleicht war es das, was ihr am meisten Angst einjagte. »Hör auf zu träumen und komm endlich in der Wirklichkeit an, Anzej! Die Menschen, die du dort kanntest, haben dich als Sklaven in die Fremde verkauft! Willst du wirklich, dass wir ins Verderben laufen?«
Er schüttelte den Kopf und legte die Hände auf ihre Schultern. »Du musst keine Angst haben. Es ist meine Heimat. Nur dort kenne ich mich aus und nur dort kann ich dich beschützen.«
»Ich brauche keinen Beschützer!«
»Aber jemanden, der dein Leben rettet«, antwortete Anzej ernst. »Und jemanden, der an deiner Seite ist.«
Summer schluckte. Und wenn er recht hat? Wenn das tatsächlich alles ist, was ich verlangen kann - die Wahl zwischen zwei Gefahren zu haben? Wieder einmal erschien es ihr so verlockend einfach: nachgeben, sich ganz auf Anzej verlassen.
»Das Nordland ist groß«, fuhr er fort. »Wir müssen nicht nach Toljan gehen. Im Norden gibt so viele andere Orte, an denen wir sicher sind. Wälder, die so undurchdringlich sind, dass dort nur Tiere und Gespenster leben. Es gibt magische Wasserfälle und Dörfer, die an den Klippen der Fjorde hängen wie Vogelnester. Es gibt verlassene Schlösser aus einer lange vergangenen Zeit. Dort findet uns niemand. Niemand!« Sein Tonfall hatte etwas Beschwörendes bekommen, doch sie hörte nur zu gut heraus, wie ungeduldig er war, sie zum Mitkommen zu bewegen.
Vielleicht lag es an der schlechten Beleuchtung in der Gasse, aber sie schrak zusammen, als sie wieder die Veränderung in Anzejs Gesicht wahrzunehmen glaubte. Als würde ein Schatten auf ihn fallen. Beim nächsten Blinzeln war die Täuschung verschwunden.
»Wir bleiben dem Krieg fern, Summer. Wir weichen ihm aus und werden …«
»… unsichtbar? Wenn das so gut funktioniert wie eben in der Kneipe, können wir uns gleich auf den Marktplatz stellen und nach dem Blutmann schreien. Nein, wenn du unbedingt nach Hause willst, dann trennen sich unsere Wege hier und heute.«
Sie erschrak selbst über diese Worte, vielleicht, weil sie hier ganz anders klangen als bei ihren sonstigen Streitereien. Hier, in einer Gasse im Nirgendwo, hatte ihre leicht dahingesagte Drohung, die sie schon oft ausgesprochen hatte, plötzlich ein viel zu schweres Gewicht. Diesmal lachte Anzej nicht und zog sie nicht auf. Er schwieg nur viel zu lange, und seine Augen glänzten in einem kalten Licht.
»Anzej, es … es tut mir leid«, sagte sie nach einer Weile leise. »Ich will mich nicht mit dir streiten. Aber ich verstehe dich nicht. Und so kenne ich dich nicht.«
»Manchmal kenne ich mich auch nicht«, erwiderte er. »Aber vielleicht hast du ja recht?«
Sie war zu stolz, um zu ihm zu gehen und ihn zu umarmen. Er wollte ihr die Hand auf die Wange legen, doch sie trat zurück. Anzej zögerte, doch dann folgte er ihr und legte so behutsam wie in den Nächten die Arme um sie. Und für einige Augenblicke war alles gut.
»Weißt du, wie viele Tage ich im Steinbruch davon geträumt habe, dorthin zurückzukehren?«, murmelte er in ihr Haar. »Weißt du, was das ist, Heimweh?«
Es war, als würde sich eine unsichtbare Hand um ihre Kehle schließen. Das hier ist die einzige Heimat,
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