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Ascheherz

Ascheherz

Titel: Ascheherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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die ich kenne , dachte sie bitter. Nicht allein zu sein. Und der einzige vertraute Ort, den ich habe, sind deine Arme, Anzej.

    »Nein«, erwiderte sie leise. »Du weißt ganz genau, dass ich keine Erinnerung an eine Heimat habe.«
    Als hätte sie unvermittelt in einen unendlich tiefen Abgrund geblickt, wurde ihr schwindelig. Geh mit ihm! , riet ihr eine schmeichelnde Stimme. Du hast doch nichts zu verlieren.
    Und als sie die Augen schloss, trieben Teile eines fröhlichen Liedes durch ihre wirren Gedanken: »… liebte dich körperlos - dein Lachen - dein Haar, liebe dich grundlos und immerdar.«
    Ein Bild flackerte grell wie ein Blitz auf, rotes Frauenhaar, das verwehte und ein knochiges Grinsen freigab. Lady Tod, die die Arme nach ihr ausstreckte.
    Sie zuckte erschrocken zurück und machte sich von Anzej los.
    »Nein«, sagte sie. »Ich gehe nicht nach Norden. Ich kann nicht, Anzej. Wir … wir müssen einen anderen Weg finden.«
    Seine Stimme klang tonlos. »Und wohin willst du dann?«
    »Ich weiß nicht. Vielleicht nach Westen. Ich … muss nachdenken.« Plötzlich war ihr selbst das spärliche Licht, das auf die Gasse fiel, noch zu hell. Wir stehen hier und reden, als könnten wir nicht beobachtet werden!
    Sie drückte die Tasche an sich, wandte sich von Anzej ab und ging ein paar Meter weiter am Fels entlang.
    »Summer?« Anzejs leiser Ruf ließ sie innehalten und sie erkannte, dass er ihr diesmal nicht gefolgt war. Und, schlimmer noch, dass er es offenbar auch nicht vorhatte.
    »Ich werde dich nicht zu etwas überreden, was du nicht tun willst. Aber ich fahre morgen früh mit dem Schiff ins Nordland. Mit dir. Oder … ohne dich.«
    Es gab Worte, die nur wie Ohrfeigen trafen. Und solche, die sich anfühlten, als würde ein kantiger Klumpen in der Magengrube
gefrieren. Summer holte tief Luft und hob das Kinn. Nicht heulen! , befahl sie sich, während sie sich zu ihm umdrehte.
    »Eine wirklich faire Wahl, die du mir da lässt.« Es hatte spöttisch klingen sollen, stattdessen schmeckte jedes Wort nach Enttäuschung.
    »Ich kann dich nicht vor deinem Verfolger beschützen«, erklärte Anzej. »Nicht hier, wo ich selbst noch fremder bin als du.«
    »Tja, so viel zu deinem Versprechen, mich nicht alleine zu lassen.«
    »Nun, zumindest darin sind wir uns wohl ähnlich«, antwortete Anzej kühl. »Manchmal lügen wir. Und manchmal lassen wir unser Herz im Stich, um unseren Kopf zu retten.«
    Einen Moment lang wusste sie nicht mehr, ob sie ihn hasste oder liebte.
    »Dann viel Glück dabei, dein Leben für eine Schiffspassage zu verkaufen«, schleuderte sie ihm entgegen.
    Anzej zuckte in echtem Bedauern die Schultern. »Viel Glück damit, westwärts zu fliehen, Summer. Und falls du es dir noch anders überlegst, weißt du ja, wo du mich morgen findest.«

graumeer
    M öwenschreie weckten sie aus einem wirren Traum, in dem Anzej hilflos an eine Planke geklammert in einem steingrauen Meer dahintrieb. Der Regen, der wie ein Trommeltakt die Melodie des Meeres begleitet hatte, war verstummt, und der Himmel zwischen den Hausdächern über ihr war nicht mehr dunkel, sondern pfirsichfarben und viel zu grell. Ihr war schwindelig vor Hunger und ihr Kopf schmerzte, als hätten ihre Träume einen Stampftanz mit Nagelschuhen darin aufgeführt. Benommen rieb sie sich die Augen. Sie konnte sich nicht erinnern, wie lange sie allein und voller Wut durch die Gassen Anakands gewandert war. Wieder eine Lektion, die sie in ihrem Katzenleben lernen musste: Sie hatte nicht gewusst, wie schnell ein Mensch sich an einen anderen gewöhnen konnte. Anfangs war es leichter gewesen, wütend auf Anzej zu sein, als ihn zu vermissen und sich verlassen zu fühlen. Dann eben wieder allein . Doch so einfach war es natürlich nicht.
    Nach einigen Stunden hatte sie sich dabei ertappt, dass ihr Weg sie wieder zu der Kneipe zurückgeführt hatte. Doch dort waren die Fenster dunkel, die Tür verschlossen - und Anzej war fort. Als ein Platzregen sie überraschte, war Summer schließlich auf einen steinernen Bogen geklettert, der sich zwischen zwei Häusern über die Straße spannte. Irgendwann zwischen dem dritten Anfall von
Selbstmitleid und dem fünfzigsten Gedanken an Anzej musste sie wohl doch eingenickt sein.
    Und hier kauerte sie noch immer, direkt unter einem wuchtigen Fenstererker, mit tauben Muskeln und steifen Gelenken. Kleine braune Asseln krabbelten eilig über ihre Hosenbeine, als sie sich vorsichtig regte. Wie spät mochte es sein? Eindeutig zu

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