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Ascheherz

Ascheherz

Titel: Ascheherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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Kind, auf den staubigen Straßen und an einem Bach, wo er Forellen fing. Sie sah das Mädchen mit den Sommersprossen, das er seit seiner Kindheit
liebte. Seinen älteren Bruder, der ihn oft verprügelte, und den Augenblick, in dem sich Noret ohne Bedauern von seiner Mutter verabschiedete, um in der Armee des Lords seinen Dienst anzutreten. Sie spürte seine Langeweile, seine Hoffnungen auf Ruhm, seine unendliche Gier nach Geld und die törichte Sehnsucht, sich in einem Krieg zu beweisen. Seine Betrügereien, seine Lügen und Wünsche, alle Grausamkeiten, seine Träume, Freuden und sein Leid - all das wehte durch sie hindurch wie das Gespenst eines Lebens, das bereits Vergangenheit war.
    Norets Herzschlag, der ihr ganzes Inneres ausfüllte, wurde schwächer. Es war keine Angst in diesem Übergang, nur ein Geschenk, das sie ihm machen konnte: Die Würdigung seines Lebens auf dem letzten Stück seines Weges. Ihre Lippen kribbelten unter dem Kuss und wurden kühl, als sein Herz aufhörte, zu schlagen. Seine Hand erschlaffte.
    Ebenso behutsam, wie sie ihn geküsst hatte, löste Summer ihre Lippen von seinen. »Leb wohl, Noret«, flüsterte sie. Und flüchtig durchzuckte sie der Schmerz, einen geliebten Menschen verloren zu haben. Doch dieser Abglanz echter Trauer verblasste so schnell, wie er aufgeflackert war, und ließ nur ein sanftes Bedauern zurück.
    Langsam richtete sie sich auf, schwach und auf eine ruhige Weise ernüchtert und leer. Ich habe ihm seinen Tod gebracht . Mit einem Kuss. Ich bin Eljana und Fira und Almar und trage tausend andere Namen. Jeder, der mich ruft, gibt mir einen Namen. Aber eines bleibt immer gleich: Ich schenke den Tod!
    Sie hörte Schüsse, roch den Rauch und nasses Gras, doch es war ihr gleichgültig. Alles erschien nichtig und unwirklich. Behutsam, als könnte er noch etwas fühlen, löste sie Norets Hand aus der ihren. Sie wollte sie gerade auf seine Brust legen, als etwas
zwischen seinen Fingern herausfiel und im Gras landete. Er hatte nichts in der Hand gehalten - natürlich nicht. Aber nun lag dort eine verpuppte Raupe in einem rubinroten Kokon. Ein Geschenk aus ihrer anderen Wirklichkeit. Ohne dass sie wusste, warum, musste sie lächeln. Ihre Finger zitterten, als sie das zerbrechliche Gebilde vorsichtig hochhob. Fasziniert betrachtete sie die feine Struktur, die Glätte, die wie Lack wirkte, und die Naht, die bald schon einen Falter freigeben würde. Sie holte ihr Messer hervor, zog es aus der Lederhülle und legte es ins Gras. Behutsam schob sie die Puppe in die feste Lederhülse hinein. Sie passte genau, als wäre die Hülle nur zu ihrem Schutz angefertigt worden. Sie wusste nicht, warum sie sie dort verstaute, aber im Augenblick musste sie ihren Verstand beschäftigen, um ihn nicht auf der Stelle zu verlieren. Vorsichtig bettete sie die Hülse neben das Kartenspiel in der versteckten Innentasche, während ihre Gedanken wie ein glühender Tornado immer um dieselbe Erkenntnis wirbelten. Deshalb habe ich also Angst davor, jemandem zu nahe zu kommen und ihn zu küssen. Weil er sterben würde. Deshalb habe ich schon beim Gedanken an einen Kuss Verlust geschmeckt. Weil mein Kuss den Tod bringt. Finn hätte sterben können!
    Und warum konnte ich Anzej küssen? Sie schloss die Augen und gab sich selbst die Antwort: Weil er etwas anderes ist als Finn . Weil er … so ist wie ich.
    Mit einem Mal hörten der Schwindel und alle wirren Gedanken auf, als hätte jemand einen Fluch von ihr genommen. Sie war müde wie nach einer langen Reise, die vor einem Jahr und fünf Monaten aus dem Nichts begonnen hatte. Da war nicht einmal mehr der Schatten von Angst, als sie an Anzejs anderes Gesicht dachte. Im Gegenteil. Die Fäden fanden sich und verwoben sich mit allem, was sie über sich und ihn wusste, zu einem neuen Bild.
Wir sind von einer Art. Deshalb waren wir uns von Anfang an so vertraut. Sie hatten eine gemeinsame Sprache - und beherrschten alle anderen Sprachen, ohne es zu merken. Vielleicht, weil der Tod alle Sprachen spricht? Summer schob die Hand tief unter ihre Jacke und legte sie behutsam auf die Innentasche über ihrer linken Brust. Die Puppe schien eine pulsierende Wärme abzustrahlen - wie ein kleines Herz. Jetzt wurde ihr auch klar, warum sie vor wenigen Minuten in Tränen ausgebrochen war und diesen verrückten Funken Glück verspürt hatte: Sie hatte die Nähe der anderen gespürt, andere wie sie.
    Weitere Fäden fanden sich zu dem Muster, doch die Farben nahmen nun einen grellen

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