Aschenputtel: Thriller (German Edition)
Entsprechend waren keine Wiederbelebungsversuche unternommen worden. Die Todesursache stand noch nicht fest, aber die Untersuchungen, die man bisher an der Leiche vorgenommen hatte, ließen vermuten, dass sie, als man sie fand, schon ungefähr einen Tag lang tot gewesen sein musste. Das wiederum hieß, dass sie nach der Entführung nur noch wenige Stunden gelebt hatte. Wenige Stunden. Wenn sie nur geahnt hätten, dass sie es mit einem solchen Fall zu tun hatten!
Aber das war genau das Problem. Sie hatten es nicht gewusst. Und sie hatten auch keinen Grund gehabt, dies anzunehmen. Oder doch?
Alex verspürte einen dicken Kloß im Hals und schluckte, um ihn loszuwerden. Seine Gedanken wanderten zu seinen eigenen Kindern. Mit verkrampften Fingern zog er sein Handy hervor und wählte die Nummer seiner Tochter Viktoria. Sie ging nach dem fünften Klingeln dran, und Alex hörte sofort, dass er sie geweckt hatte.
» Wie froh ich bin, dich zu hören«, sagte er mit heiserer Stimme.
Die Tochter, die es gewohnt war, dass ihr Vater sich manchmal zu seltsamen Zeiten meldete, beendete das Gespräch bald wieder, ohne erfahren zu haben, weshalb er eigentlich angerufen hatte. Aber das tat nichts zur Sache. Aus Erfahrung wusste sie, dass sie irgendwann später sicherlich erfahren würde, was er gewollt hatte– vielleicht erst bei seinem nächsten Anruf, aber dann auf jeden Fall.
Glücklich und erleichtert steckte Alex das Telefon wieder in die Tasche.
Irgendwo in seinem Innern hatte er, wie alle Eltern es taten, gehofft, dass eines seiner Kinder die gleiche Laufbahn einschlagen würde wie er selbst. Oder zumindest eine ähnliche. Doch seine Hoffnung hatte sich nicht erfüllt.
Viktoria war Tierärztin geworden. Lange hatte Alex sich daran festgeklammert, dass ihr Interesse für Pferde sie möglicherweise zur berittenen Polizei bringen würde. Aber als der Universitätsabschluss näher rückte, war ihm klar geworden, dass das nicht sehr wahrscheinlich war.
Es war ihm klar gewesen, dass er ihr dies nicht ernsthaft hatte vorwerfen können. Schließlich hatte auch er selbst einst eine andere Bahn eingeschlagen, als man von ihm erwartet hatte. Es war vielmehr so gewesen, dass er die Hoffnung gehegt hatte, Viktoria– die vom Aussehen her eine Kopie ihrer Mutter war– würde zumindest innerlich zu einer Kopie ihres Vaters. Aber das war sie nicht geworden. Alex barst vor Stolz, wenn er an sie dachte, auch wenn er ahnte, dass er das viel zu selten zeigte. Irgendwo in ihrem ruhigen Blick konnte er stets ein unsicheres Fragen erkennen. » Bist du denn wenigstens ein bisschen zufrieden mit mir, Papa?«, flüsterte es. » Bist du zufrieden mit dem, wozu du mich gemacht hast?«
Wieder verspürte Alex einen Kloß im Hals. Er war so unbeschreiblich zufrieden. Und » zufrieden« klang in diesem Zusammenhang noch viel zu banal.
Er war mit seinen beiden Kindern zufrieden, mit Viktoria ebenso wie mit Erik, ihrem jüngeren Bruder. Sein Sohn, der ewig Suchende. Alex wusste, dass es hart war, seinen Sohn, der noch nicht einmal fünfundzwanzig Jahre alt war, einen Suchenden zu nennen, aber er konnte einfach nicht erkennen, dass Erik irgendwo Wurzeln zu schlagen gedachte. Nicht richtig. Und nicht so, wie er lebte.
Als Erik das Abitur gemacht hatte, hatte es eine kurze Zeit lang so ausgesehen, als würde er beim Militär seinen Platz finden. Eigentlich hatte Alex sich nicht gerade einen Sohn bei der Armee gewünscht, aber wenn das für Erik eine gute Umgebung war, dann wollte er sich dem nicht widersetzen. Aber Erik hatte die Offiziersausbildung abgebrochen, die er angefangen hatte, und stattdessen Pilot werden wollen. Und obwohl niemand so recht verstand, wie er es geschafft hatte, war der Junge in einer Flugschule in Skåne aufgenommen worden. Doch dann war etwas vollkommen Unvorhergesehenes geschehen. Zum großen Entsetzen seiner Eltern hatte der Sohn sowohl die Schule als auch das Land verlassen und war nach Kolumbien gezogen, um dort mit einer Frau zu leben, die er bei einem Spanisch-Abendkurs kennengelernt hatte. Die Frau war zehn Jahre älter als er und hatte gerade ihren Mann verlassen. Alex und Lena hatten nicht gewusst, was sie davon halten sollten, und hatten den Sohn ziehen lassen müssen.
» Er wird ihrer bald überdrüssig werden«, hatte Lena immer wieder gesagt.
Alex hatte nur resigniert den Kopf geschüttelt.
Nachrichten vom Leben des Sohnes auf der anderen Seite der Erde erreichten sie zum Teil per Mail, selten übers Telefon,
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