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Aschenputtels letzter Tanz

Aschenputtels letzter Tanz

Titel: Aschenputtels letzter Tanz
Autoren: Kathleen Weise
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werden irgendwie parallel erwachsen. Und an manchen Tagen bin ich mir nicht mal sicher, wer von uns beiden eigentlich der Teenager ist. Das ist oft anstrengend, aber wir sind ein gutes Team, Mutsch und ich, wie Tomate und Mozzarella, das passt einfach.
    »Angst bringt dich nirgendwo hin«, flüstert sie. »Sielässt dich nur erstarren. Diesem Gefühl darf man sich nie ergeben, sonst bleibt man ein Leben lang an derselben Stelle. Verstehst du das?«
    Ich nicke, aber es ist schwer, die Angst zu ignorieren. Vor allem, wenn ich die Bilder von Ninas zerschnittener Wange nicht aus dem Kopf bekomme. »Wir müssen es Elsa erzählen.«
    Mutsch nickt. »Das mache ich nachher. Ich habe schon überlegt, ob wir nicht besser wieder fahren …«
    »Wir können jetzt nicht gehen!«, sage ich sofort und bin selbst über meine Heftigkeit erstaunt, aber das würde sich irgendwie nach Flucht anfühlen, als würde ich Elsa im Stich lassen. Wir haben doch immer unsere Sommerferien miteinander verbracht, das lass ich uns nicht kaputtmachen!
    »Ob Großmutter noch die alten Märchenbücher drüben hat?«, frage ich.
    »Warum willst du das wissen?«
    »Weil ich mich gar nicht mehr so genau daran erinnern kann, was in den Märchen passiert ist, außer … außer an ein paar Sprüche … Ruckedigu, Blut ist im Schuh …«
    Aber im Märchen vom Aschenputtel verlieren die bösen Stiefschwestern Zehe und Ferse, damit sie in den Schuh passen. Hat die Polizei etwa recht und der Angreifer wollte Elsa schaden, weil er sie für böse hält? Aber was ist dann mit Nina? Schneewittchen ist nicht böse gewesen. Nur die Königin, ihre Stiefmutter. Mir schwirrtder Kopf von den Ereignissen. Ich muss Elsa nach Nina fragen, und auch nach der Bedeutung ihrer E-Mail-Adresse, aber das muss warten, heute will ich nur noch schlafen – und alles vergessen.
    »Ich gehe hoch und leg mich hin, okay?«
    Mutsch nickt und drückt mir einen Kuss auf den Scheitel. Langsamer als sonst putze ich Zähne und wasche mir das Gesicht, und als ich die Treppe nach oben steige, sind meine Beine bleischwer. Sie wollen sich kaum heben und selbst das Dutzend Stufen strengt mich schon an.
    Unter dem Dach ist es warm, deshalb öffne ich das schmale Fenster in der Schräge, damit wir in der Nacht nicht ersticken, und bleibe einen Moment lang an der Luke stehen, während sich der Raum mit der kühlen Abendluft füllt.
    Auf einmal ist mir, als würde mich jemand beobachten. Ich weiß, dass das Unsinn ist, ich habe das Licht wegen der Mücken nicht angeschaltet, von draußen kann man mich also gar nicht sehen. Trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, dass dort etwas lauert …



S onnenlicht kriecht mir hinter die Lider und zieht mich langsam vom Schlaf in den Tag. Es ist ein zähes Abmühen, denn ein Teil von mir wehrt sich dagegen, die Augen aufzuschlagen. Er würde viel lieber noch länger in dämmrigen Träumen ausharren. Es riecht nach Kaffee und ich höre Mutsch in der Küche hantieren. Vergeblich versuche ich, noch einmal einzuschlafen, aber nach zehn Minuten schlage ich endlich die Decke zurück und schiebe die Beine aus dem Bett. Dann sitze ich einen Moment lang still auf der Matratze und lasse die Füße baumeln. Das Sonnenlicht kitzelt meine Zehen.
    Auch nach dem Aufstehen ist jede Bewegung mühsam, mein Geist wabert trüb durch den Morgen und ist randvoll mit Bildern vom vorangegangenen Tag. Beinahe mechanisch ziehe ich die weiße Seidenbluse an, dieim Sonnenschein blendet, dazu eine schwarze Hose mit roten Hosenträgern. Meinen braunen Haarwust stecke ich mit rot lackierten Essstäbchen hoch, die mir Herr Ouyang an meinem letzten Geburtstag geschenkt hat, weil er es nicht mehr mit anschauen konnte, wie mir die Haare in seinem Restaurant dauernd in die Suppe gefallen sind. Vermutlich wird Großmutter diesen Aufzug auch wieder schrecklich finden, aber das kümmert mich nicht im Geringsten.
    Als ich endlich in die Küche komme, sitzt dort jedoch nicht wie vermutet Mutsch am Küchentisch, sondern Elsa, die sich ein Brötchen schmiert. Die rote Farbe ist aus ihrem Gesicht verschwunden. Neben ihr steht ein offenes Paket mit allerlei Süßkram und Esszeug, das mit Schleifen und Aufklebern verziert ist.
    »Geschenke von den Leuten aus meiner Balletttrainingsgruppe«, erklärt sie auf meinen Blick hin. »Ist gestern mit der Post gekommen. Kannst dir was aussuchen, am besten die Sachen von Laura-Sophie, die Schnepfe kann ich nicht leiden. Sie glaubt, sie ist die nächste
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