Aschenputtels letzter Tanz
Nachrichten zu dem zweiten Überfall im Moor kamen. Namen wurden dabei nicht genannt, doch die Polizei nimmt diese Entwicklung sehr ernst, weil nun befürchtet wird, dass es sich vielleicht um einen Serientäter handelt. Einige Leute fordern eine Bürgerwacht, die das Moor im Blick behalten soll.
Kurz bevor wir daheim sind, beginnt es erneut zu regnen. Das passt zu der eigenartigen Stimmung, die mich eingesponnen hat. Wie Quecksilberfäden rinnt der Regen an den Scheiben herunter und färbt den wilden Wein am Herrenhaus dunkelgrün.
Als wir aussteigen, ist niemand mehr auf dem Grundstück zu sehen. Kein Polizeiwagen, keine Absperrbänder,nichts. Als wäre nichts geschehen. Alles sieht noch genauso aus wie am Tag zuvor. Die Untersuchungen am Tatort müssen schon beendet sein.
Die Kronen der Eichen schütteln sich im Wind und die Luft ist schwer von Gerüchen, die aus der Erde aufsteigen. Vom feuchten roten Lehm der Auffahrt, den Rosenbüschen und von etwas Süßlichem, das mich an die Faulbäume erinnert, obwohl das gar nicht sein kann, denn sie stehen viel zu weit weg, um sie hier riechen zu können. Unsicher sehe ich zu den Eichen hinüber, hinter denen der Bruchwald beginnt, und zum ersten Mal glaube ich fast, dass sie wirklich die Wächter dieses Moores sind. Die Frage ist nur, wen sie beschützen, das Moor vor uns oder uns vor dem Moor?
Eigentlich erwarte ich, dass Mutsch sofort Großmutter und den anderen erzählt, was passiert ist, aber stattdessen schlägt sie den Weg zum Gästehäuschen ein. Dort gehe ich als Erstes ins Badezimmer, um mir die Hände zu waschen; dreimal nehme ich die Seife in die Hand, bis ich endlich das Gefühl habe, dass der Dreck und das Blut verschwunden sind. Auch unter meinen Fingernägeln. Danach setze ich mich erschöpft auf den geschlossenen Toilettendeckel und die Nymphen sehen mit ihren Türkisaugen auf mich herab, die Hände wie zum Trost ausgestreckt.
Nach einer Weile kommt Mutsch herein, in der einen Hand trägt sie einen Teller mit belegten Broten, in der anderen eine Tasse Tee. Den Teller stellt sie neben mirim Waschbecken ab, sodass ich die Brote erreichen kann. Der Tee schmeckt scheußlich, wahrscheinlich ist es irgendein Beruhigungszeug, aber kaum habe ich die ersten Schlucke genommen, wird mir warm im Bauch, und mein Herzschlag verlangsamt sich endlich wieder auf sein normales Tempo.
Wir nehmen uns jede ein Brot und sitzen dann kauend im Bad, ich auf dem Klodeckel und Mutsch auf dem Badewannenrand, während der Regen laut gegen die Scheiben trommelt.
»Was für ein Sommer«, schimpft sie und fügt nachdenklich hinzu: »Es ist besser, wenn du die nächste Zeit nicht mehr ins Moor gehst. Solange sie diesen Verrückten nicht gefunden haben, will ich nicht, dass du da draußen rumspazierst. Das Moor ist gefährlich genug. Es hat mir sowieso nie gefallen, dass du dich dort so viel rumgetrieben hast.«
»Ich hab mich nicht rumgetrieben«, erwidere ich, aber heute fehlt mir der Biss, mich mit ihr zu streiten. »Ich kann ja Edgar und Tennessee mitnehmen, dann können die mich gegen den Angreifer verteidigen.«
Doch sie lacht nicht über den Witz, nicht mal ein Grinsen zeigt sich.
Mit Gewittermine holt sie sich eine Zigarette aus der Küche, dann öffnet sie das Fenster neben der Wanne und setzt sich aufs Fensterbrett. Der Regen drückt die Rauchwolke, die nach draußen zieht, sofort nach unten. Wie ein Geist kriecht sie über den Boden davon. Hin zu denBaumwächtern, die unter der Wasserlast ihre Zweige senken.
Bei dem Gedanken daran, dass es dieser Täter geschafft hat, mir Angst vor dem Moor einzujagen, packt mich mit einem Mal die Wut. In meiner Vorstellung bildet sich ein dunkler Schemen, der hoch über mir aufragt. Das Monster, das im Verborgenen lauert und darauf wartet, dass jemand einen Schritt vom Weg abkommt.
Aber ich will keine Angst vor diesem Unbekannten haben! Ich habe nie Angst vorm Moor gehabt – doch jetzt sehe ich misstrauisch zu ihm hinüber, als hätte sich das Moor gegen uns verschworen.
»Hast du schon mal richtig Angst gehabt?«, frage ich Mutsch, während ich neben sie trete und weiter aus dem Fenster starre.
»Ein Mal. Bei deiner Geburt. Ich hatte ja nun Verantwortung für einen anderen Menschen, der sich nicht selbst helfen konnte. Das kann einem schon mal Angst machen.« Sie wirft mir ein kleines Lächeln zu und schnippt die Asche nach draußen.
Mutsch sagt immer, ich wäre der beste Fehler, den sie je gemacht hat. Oft glaube ich, wir
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