Aschenputtels letzter Tanz
und schon bald klebt mir das Schlafanzugoberteil am Körper.
Irgendwann nach Mitternacht beschließe ich, das Fenster zu öffnen, auch auf die Gefahr hin, dass die Mücken mich zu ihrem Festmahl erklären. Benommen und erschöpft schleppe ich mich zur Dachluke und greife nach dem Hebel, als ich plötzlich eine Gestalt am Gästehäuschen vorbeihuschen sehe. Im Licht des abnehmenden Mondes ist sie gut zu erkennen, obwohl die Laterne am Herrenhaus längst abgeschaltet ist.
Die Gestalt bewegt sich hin zum Moor. Es ist Elsa.
Ich erkenne sie an der Art, wie sie sich fortbewegt und dabei das Bein nachzieht.
Was will sie im Moor? Um diese Uhrzeit?
Trifft sie sich mit jemandem? Etwa Nina oder David?
Mit einem Schlag bin ich wieder wach, denn die Angst um Elsa brennt mir im Blut. Ich sehe, wie sie sich auf die schwarze Wand der Baumwächter zubewegt und zwischen ihnen verschwindet, als hätte ich mir Elsas Gestalt nur eingebildet.
Ich muss ihr hinterher!, denke ich, während ich schon nach meiner Hose und einem Pullover greife. In Windeseile habe ich mich angezogen und die Stiefel geschnürt. Es bleibt keine Zeit, jemanden zu holen, sonst verliere ich sie im Moor.
Himmel, sie muss verrückt geworden sein! Um diese Uhrzeit ins Geißelmoor zu rennen, wenn man die eigene Hand nicht vor Augen erkennt, geschweige denn den Weg. Und das auch noch mit ihrem Fuß, mit dem sie kaum Halt finden wird. Wie vom Teufel besessen renne ich aus dem Haus und Elsa hinterher, ich rufe ihren Namen, aber sie ist schon im Bruchwald eingetaucht und hört mich nicht mehr. Der Mond hängt tief am Himmel und streut sein käsiges Licht über uns. Wie verlängerte Arme kriechen die Schatten der Eichenäste über den Boden, als ich zwischen ihnen hindurchlaufe.
Ich kann nur raten, wohin sich Elsa wendet; wenn sie sich wirklich mit jemandem treffen will, stehen ihre Chancen am besten mit dem Scherbenberg. Dort werden sie ihre Schritte hinführen, denn das ist der einzige feste Ort, an dem man nicht jeden Moment droht, in die Tiefe herabgezogen zu werden. Außerdem kennt den Weg dorthin fast jeder in Mahnburg.
Auf der anderen Seite des Bruchwaldes bleibe ich stehen und schaue einen Moment lang gebannt auf die dunkle Fläche des Moors, die die eisige Kälte darunter verbirgt. Es sieht so harmlos aus, aber das ist es nicht. Es ist tödlich.
Und ich bin eine Närrin, ihr auch noch zu folgen.
Mit zitternden Händen wähle ich Tobis Nummer, der Empfang ist schlecht, aber nach einer Ewigkeit nimmt er endlich ab.
»Ist Nina in ihrem Zimmer?«, brülle ich in das Handy, und fahre herum, als hinter mir ein Zweig knirscht. Aber es ist nur ein Marder, der sich seinen Weg durchs Geäst sucht.
»Was? Was ist denn?«
»Elsa ist gerade ins Moor gerannt, aber jetzt kann ich sie nicht mehr sehen, alles ist so dunkel hier. Wenn sie ins Wasser stürzt …« Ich spreche den Gedanken nicht aus.
»Du darfst ihr nicht folgen, Harper! Das ist viel zu gefährlich.«
»Ich kann sie doch nicht einfach ins Moor laufen lassen!«
Ich höre, wie er aus dem Zimmer rennt und eine weitere Tür aufreißt.
»Nina ist nicht in ihrem Bett! Sie muss sich heimlich davongemacht haben.« Sein Atem klingt gepresst. »Bleib, wo du bist, ich komme hin.«
»Ich kann sie nicht alleinlassen, Tobi, ich glaube, dass sie zum Scherbenberg geht. Den Weg kenne ich gut genug, um ihn auch im Dunkeln zu finden. Wenn sie dort nicht ist, komme ich zurück, versprochen.«
»Um Himmels willen, Harper, ich werde jetzt die Polizei anrufen, bleib …«
Ich lege auf, bevor er mir die Sache ausreden kann, und obwohl mir vor Angst fast schwindlig wird, setze ich den ersten Fuß auf die nächstliegende Torfscholle. Wie eine Schnecke komme ich voran, unsicher gehe ich Schritt für Schritt, und bei jedem Geräusch fahre ich panisch herum, aber es sind immer nur Tiere, nächtliche Jäger auf der Suche nach etwas zu fressen.
Es kostet mich die doppelte Zeit, um an den Fuß des Scherbenbergs zu kommen, der Wind ist aufgefrischt, und als ich mit zittrigen Knien hinaufsteige, versuche ich, zwischen den Schatten etwas zu erkennen.
Ich kann sie hören, bevor ich sie sehe.
Es ist ein Flüstern, sanft und eindringlich weht es den Hügel hinunter auf mich zu und führt mich bis nach oben. Dort stehen im Licht des Mondes das verstümmelte Aschenputtel, die Eisprinzessin und der Jäger, der selbst zum Gejagten wurde. Dicht gedrängt beieinander, die Köpfe zusammengesteckt, und Ninas Haut leuchtet beinahe im
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