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Aschenwelt

Aschenwelt

Titel: Aschenwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timon Schlichen Majer
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der Villa lebte schon seit der Neubauzeit die Familie meiner Mutter, und nun wir. Meine Großmutter war im vergangenen Jahr gestorben – das tat immer noch weh, denn sie war die einzige, die mich verstand, die mich gar ab und an von ihrem Weinglas nippen ließ, obwohl ich noch keinen Alkohol trinken durfte – und somit gehörte das Haus jetzt meiner Mutter alleine, da auch sie, wie ich, ein Einzelkind war. Dies brachte die unangenehme Situation mit sich, dass ich irgendwann diese hässliche Villa erben musste, aber das war noch lange hin, viel zu lange, um sich darüber ernsthafte Sorgen machen zu müssen.
    Keine Ahnung, wie viele Generationen hier schon gelebt hatten, es mussten aber mehr als nur eine Handvoll gewesen sein, den Hinterlassenschaften nach zu schließen, die den Dachboden verstopften. Als Kind hatte ich einen Heidenspaß daran, durch diese verstaubte Welt zu streifen, immer auf Schatzsuche, immer mit vor Grusel aufgestellten Nackenhaaren.
    Ich war schon lange nicht mehr hier oben gewesen. Aber als ich nun die Türklinke hinunterdrückte, sich die Tür wie in einem schlechten Horrorfilm quietschend öffnete und ich meinen Fuß auf den staubigen Boden setzte, da kamen zahlreiche Erinnerungen zurück, als sei alles erst gestern gewesen. Ich erinnerte mich an den fast knöcheltiefen Staub auf dem Boden, in dem man Spuren wie im Schnee hinterließ, und die doch nach einigen Tagen wieder verschwunden waren, als wären sie nie dagewesen. Ich erinnerte mich an die Spinnweben in jeder Ecke, die allesamt größer waren als ich selbst.
    Ich ging weiter in den Dachboden hinein und fand den mannsgroßen, mit goldenen Ranken verzierten Spiegel, den ich mir immer als Zauberspiegel vorgestellt hatte. Durch ihn reiste ich in viele Welten und erlebte viele Abenteuer. Alles nur in meiner Fantasie, aber damals war es echt für mich. Ich erzählte meinen Eltern davon, so detailreich und so spannend, dass ich es oftmals selbst glaubte, was ich da alles zusammensponn. Ich war schon immer eine gute Lügnerin.
    Hinter einem Stapel alter Koffer, die Gott weiß welche Länder gesehen hatten, fand ich den alten Hirschkopf. Einer meiner Vorfahren musste Jäger gewesen sein, denn überall auf dem Dachboden, und teilweise auch an den Wänden unserer Wohnräume, fand man Jagdtrophäen. Ausgetopfte Vögel, Füchse und Dachse, auf Holzplatten genagelte Schädeldecken mit Hörnern in allen Größen und Formen, und eben jenen Hirschkopf mit seinem stolzen Geweih und seinen milchigtoten Augen. Mir tat er damals so leid, und ich erinnerte mich, wie ich oft stundenlang vor ihm saß und sein Schicksal tränenreich beweinte. Was für ein Prachtskerl er im Leben gewesen sein musste, als er noch durch die Wälder strich, auf der Suche nach Leckereien und begattungswilligen Hirschkühen, bis mein idiotischer Vorfahr auftauchte, ihn erschoss, seinen Kopf vom Leib trennte und ihn auf eine hässliche Holzplatte nagelte. Ein Frevel. Mein Vater hatte ihn eines Tages vom Dachboden geholt und ihn in die Empfangshalle gehängt, als Garderobe. Das war ein noch größerer Frevel für mich und ich schrie so lange, bis der Hirsch wieder seinen angestammten Platz hinter den Koffern auf dem Dachboden eingenommen hatte. Nun war er immer noch hier und hatte sich kein bisschen verändert, im Gegensatz zu mir. Vielleicht ist das ja der Tod. Alles erstarrt, alles bleibt wie es ist, verändert sich nicht mehr, bis in alle Ewigkeit.
    Ich ging weiter und suchte nach dem alten Schrank mit den albern romantischen Schnitzereien auf der Flügeltür. Auch dieser Schrank war für mich, wie der Zauberspiegel, ein Tor in eine andere Welt. Und als ich schließlich meinen Kinderschuhen entwachsen war, benutzte ich ihn schnöde als Aufbewahrungsort meiner Spielsachen. Ich hatte sie alle eines Tages in eine große Kiste gepackt und diese hier oben in dem Schrank verstaut. Ich hoffte, dass die Kiste noch an Ort und Stelle war. Ich machte mir Sorgen, dass meine Mutter in einem Anflug von Nächstenliebe die Sachen einem Kinderheim gespendet hatte, oder einer armen Familie.
    Der Schrank stand an derselben Stelle wie immer, hier oben änderte sich nichts. Das Reich des Todes. Der würde sich hier sicherlich wohl fühlen. Ich legte meine Hände auf die beiden Knäufe der Flügeltür, drehte den linken nach links und gleichzeitig den rechten nach rechts.

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