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Ascheträume

Ascheträume

Titel: Ascheträume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio Temporin
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nachdenken. Und in der Zwischenzeit sagst du deiner Mutter nicht, dass du hier warst, okay?«
    Ich nickte, und wir gingen zu meinen Freunden hinunter ins Erdgeschoss.
    Wir verabschiedeten uns von Charles und versprachen, bald wiederzukommen. Er blieb in der Tür stehen und blickte uns hinterher.
    Auf dem Gartenweg trafen wir Sally wieder, die mit Handschuhen und Schaufel zum Gärtnern gerüstet war. Sie stand mitten in den Iris wie ein Angler im Fluss, ihre Beine steckten bis zu den Knien in den zarten Blütenblättern. Wir verabschiedeten uns auch von ihr und bevor wir durchs Tor gingen, fragte ich sie, ob sie mir ein paar Blumen schenken würde.

An jenem Abend ging ich nicht mehr weg.
    Ich blieb allein zu Hause, nachdem ich meiner Mutter gesagt hatte, sie könne ruhig mit ihren »Freundinnen« ausgehen. Das kam ihr komisch vor, weil ich sonst immer die Nase rümpfte, wenn ich eine Hupe hörte, die sie nach draußen rief, aber ich hatte mir Mühe gegeben, mich so natürlich wie möglich zu verhalten.
    Kaum war sie weg, ging ich in mein Zimmer, wo ich Sallys Iris hingestellt hatte. An jenem Abend war die Atmosphäre im Haus seltsam, aber vielleicht war auch nur ich seltsam. Alles erschien mir so wenig vertraut.
    Ich setzte mich an den Schreibtisch.
    Neben den Blumen lag die Zeichnung mit dem geheimnisvollen Jungen. Ich hoffte, ihn leichter wiederzufinden, wenn ich ihn ansah, bevor ich einschlief. Er war der Einzige, der mir irgendeine Erklärung für diese ganzen seltsamen Vorfälle geben konnte.
    Ich wusste nicht genau, was ich machen musste, und ich war mir nicht sicher, ob es klappen würde.
    Ich blickte aus dem Fenster. Der Himmel überzog sich allmählich mit den Farben der Nacht. Es war fast so weit.
    Ich hatte keine Ahnung, warum die Abend- und Morgendämmerung die einzige Zeit war, in der ich mich wohlfühlte. Das hatte mir noch niemand erklären können. Ärzte, Nachschlagewerke, Internet – alle hatten die weiße Fahne gehisst. Sie hatten kapituliert, und so hatte auch ich kapituliert.
    Ich hatte keine Ahnung, was diese überwältigende Schläfrigkeit hervorrief. Ich schleppte das Problem schon von klein auf mit mir herum. Monatelang war ich im Krankenhaus gewesen, wo man versucht hatte, mich zu behandeln, und meine Erinnerungen an meine Kindheit waren schrecklich. Ich konnte noch immer die Desinfektionsmittel riechen und die Spritzen in meinen Armen spüren.
    Vielleicht hatte ich jetzt die geeignete Therapie gefunden. Vielleicht war diese Welt aus Asche meine Heilung – vielleicht aber auch mein Ende.
    Ich atmete tief ein und steckte meine Nase in die Iris.
    Ich schloss die Augen und spürte, wie der Duft in mich eindrang, wie er sich wie violetter Rauch durch meine Nase schlängelte, durch die Kehle, in die Lungen, in Schluchten, Spalten, Abgründe, quer durch Schattenflecken, lose Glut und Tintenregen.
    Dann das Licht.
    Ein gleißendes Licht.
    Wie schon bei meinem ersten Sturz tränten mir die Augen von dem durchdringenden Weiß der Mondkuppel.
    Ich schlug sie mit großer Mühe auf, sobald ich konnte. Ich wollte sichergehen, dass keine Aschemonster in der Nähe waren und mich angriffen.
    Ich war allein.
    Ich war in der Aschewüste. Da es hier keine Orientierungspunkte gab, konnte ich nicht wissen, ob ich wieder am selben Punkt aufgetaucht war wie bei meinem ersten Besuch. Ich war von immensen Dünen umgeben.
    Wieder trug ich das lange Kleid. Diesmal zerriss ich es gleich und zog die Schuhe sofort aus.
    Ich stand auf und klopfte den Staub ab. Gleich darauf machte ich mich daran, einen gräulichen Hang zu besteigen. Ich hatte schon ganz vergessen, wie anstrengend das war. Der Boden rutschte mir unter den nackten Sohlen weg, und ich fiel bei jedem Schritt zurück.
    Auf der Kuppe der Düne angekommen, hob ich den Blick.
    Das Loch im Himmel war direkt über mir wie ein riesiges blindes Auge. Die Augenhöhle im Schädel eines Zyklopen. Es war Angst einflößend, als wollte es einen verschlingen.
    Ich senkte wieder den Blick auf den Horizont, der eher so aussah wie das, was ich kannte. Unter mir lag die »Stadt«, eine grenzenlose Fläche mit Hochhäusern, Bauten und Verkehrsmitteln, die verstreut herausragten wie einzelne Ähren auf einem niedergebrannten Feld.
    Dieses Mal war ich näher bei der Stadt.
    Ich konnte sogar undeutlich erkennen, wie die Kreaturen ziellos umherstreiften, fielen, wieder aufstanden und wieder fielen. Ich schauderte. Es waren viele, aber zum Glück waren sie weit weg.
    Aus dem

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