Ash Mistry und der Zorn der Kobra (German Edition)
anderes.« Doch bei Luckys Worten fühlte er sich unwohl. Parvati hätte Lucky im Stich gelassen, sie in Savages Festung zurückgelassen. Ihre Leben waren stets einsam gewesen, geprägt von Blutvergießen. Hatte sie überhaupt irgendwelche richtigen Gefühle für irgendwen? Wie viel Mensch steckte in ihr und wie viel Dämon? Wie konnte jemand, der Ravana zum Vater hatte, auch nur annähernd normal sein?
»Was ist mit Mum und Dad?«, fügte Lucky hinzu. »Sie werden dich nicht gehen lassen. Du bist erst vierzehn. Du kannst nicht einfach die Schule hinschmeißen.«
Ash runzelte die Stirn. »Darum hat sich Parvati schon gekümmert.«
»Wie?« In Luckys Stimme schwang mehr als nur Furcht.
Ash ließ einen Finger vor seinen Augen kreisen. »Einer ihrer Jedi-Tricks.«
»Sie will sie hypnotisieren? Und ihnen was eintrichtern?«
»Erinnerst du dich an Robert und Sue, Dads alte Freunde von der Uni?«, fragte Ash. »Wir haben uns folgende Geschichte ausgedacht: Gemmas Tod hat mich zu sehr traumatisiert, um zur Schule zu gehen, also bleibe ich eine Weile bei ihnen in Manchester. Nur für eine Woche oder so. Bis alles geklärt ist.«
Lucky fing an zu weinen. Ihr kleines Kinn schob sich nach oben, während ihr die Tränen über die Wangen kullerten. »Geh nicht, Ash.«
Er umarmte sie. »Pass auf Mum und Dad auf.« Ash griff nach seinem Rucksack. »Mir passiert nichts. Versprochen.«
»So was kannst du nicht versprechen«, schluchzte Lucky.
Ashs Mutter drückte ihn an sich. »Richte Robert und Sue liebe Grüße von uns aus.«
»Willst du wirklich den Zug nehmen? Ich kann dich fahren.« Sein Dad warf der Anzeige am Bahnhof einen skeptischen Blick zu. Der Zug sollte in drei Minuten eintreffen.
Ash schüttelte den Kopf. »Nein, mit dem Zug geht es schneller. Ich komme schon klar.«
Lucky hatte nicht mitkommen wollen. Sie hatte sich zu Hause von ihm verabschiedet, bevor sie heulend die Treppe hinaufgerannt war.
Ash sah seine Eltern an. Sollte er ihnen doch die Wahrheit beichten? Hatten sie es nicht verdient? Doch was dann? Selbst wenn er sie dazu überreden könnte, ihn gehen zu lassen, würden sie sich die ganze Zeit über Sorgen machen.
Am Bahnhof von West Dulwich waren kaum Menschen. Ash trug nur seine Jacke und seinen Rucksack. Er wünschte, seine Eltern würden gehen, andererseits sollten sie bleiben. Als er sich letzten Sommer von ihnen verabschiedet hatte, war es etwas anderes gewesen. Damals brachen er und Lucky zu Onkel Vik und Tante Anita auf, tauschten quasi ein Elternpaar gegen ein anderes. Doch worauf ließ er sich diesmal ein? Eine Jagd auf Dämonen, Magier und wer weiß was für Ungetüme.
Ratternd kam der Zug in Sichtweite. Es war so weit.
Ash drückte seinen Dad. »Ich werde euch vermissen.« Mehr brauchte er nicht zu sagen.
»Ruf an, wenn du angekommen bist, okay?« Seine Mutter lächelte ihn an. »Okay?«
»Ich schicke euch eine SMS. So oft wie möglich.«
Ash stieg in den Zug und winkte seiner Mum und seinem Dad zu. Er winkte sogar noch, als sich die Türen schlossen und der Zug losrollte. Er winkte, bis er den Bahnsteig nicht mehr sehen konnte.
Fünf Minuten später stieg er am nächsten Stopp aus, wo bereits ein Taxi auf ihn wartete. Er nickte Parvati und Khan zu, die auf der Rückbank saßen, und beförderte seinen Rucksack in den Kofferraum. Sämtliche Gedanken an seine Eltern, seine Schwester und sein Zuhause drängte er tief in sein Inneres zurück. Ab sofort war kein Platz mehr dafür. Ab sofort war er der Kali-Aastra und sonst nichts.
Es war an der Zeit zu töten.
Der Flughafen lag eine Stunde entfernt. Zu Beginn der Fahrt unterhielten sich Parvati und Khan noch im Flüsterton, doch schon bald verstummten sie.
Ash beobachtete Parvati im Seitenspiegel. Sie sah nicht gut aus. Ihre Bewegungen waren fahrig und unkoordiniert. Etwas stimmte nicht mit ihr – schon in seinem Zimmer hatte sie krank gewirkt, doch jetzt schien es wesentlich schlimmer. »Was ist los?«
Sie fuhr sich mit der Zunge über ihre trockenen, aufgeplatzten Lippen. »Bin nur müde. Das vergeht.«
Ash musterte sie lange. Was verschwieg sie ihm?
Das Taxi fuhr das Frachtterminal an. Parvati händigte dem Wachposten einige Papiere aus und kurz darauf waren sie drin. Beißende Flugzeugdämpfe tränkten die Luft und durchzogen den Abendhimmel mit hellroten, goldenen und orangefarbenen Streifen. Als ein Jumbojet auf einer entfernten Landebahn aufsetzte, erzitterte die Erde und der Motorlärm brachte das winzige Taxi selbst
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