Ash Mistry und der Zorn der Kobra (German Edition)
den Schutz der Bäume nicht verlassen zu müssen.
Vor den Jungen ragte ein grasbewachsener Felsbogen auf. Ash spähte über den Rand des Kliffs.
Im Ozean unter ihnen lagen riesige Klippen, groß wie Häuser, deren gezackte Kanten wie die Zähne eines Leviathans aus dem dunklen Meer emporstrebten, während sich brausende Wellen an ihnen brachen. Nach Osten erstreckte sich eine Reihe kleiner Inseln. Draußen auf See braute sich ein Sturm zusammen und am Horizont versammelten sich Gewitterwolken.
»Wie in Cornwall«, meinte Ash. »An der äußersten Spitze im Westen von England gibt es auch so eine Inselgruppe. Es sieht aus wie die Brücke zu irgendeiner weit entfernten Insel.«
»Sind das da drüben Lichter?« John deutete auf eine der größeren Inseln, knapp zwei Kilometer meereinwärts.
Ash holte sein Fernglas aus dem Rucksack.
John hatte recht. Auf der ihnen zugewandten Seite war zwar kein Weg zu erkennen, der die Steilklippe der Insel hinaufgeführt hätte. Doch der obere Teil war eindeutig flach und voller Palmen, zwischen denen sich einige kleine Zelte mit Laternen versteckten. Von einem Lagerfeuer stieg eine kleine Rauchsäule auf. Auf der Hochebene bewegten sich Wesen in allen möglichen Größen und Formen, einige menschlich, andere weniger. Ash entdeckte zwei übergroße Steinaffen, die einen gewaltigen Koffer schleppten.
Von Jagannatha fehlte jede Spur. Immerhin. Ash mochte ohne Probleme einen baufälligen Tempel Kalis in Schutt gelegt haben, trotzdem fühlte er sich nicht bereit, seine neuen Kräfte gegen tausend Tonnen massiven Stein auszutesten. Dann verkrampfte sich sein Magen, als er eine Gestalt im weißen Anzug zwischen den Zelten erspähte. Savage.
»Da drüben führt ein Pfad zum Strand.« John war bereits auf dem Weg den Abhang hinunter. »Komm mit.«
Sanft schwappte das Meer gegen den Sandstrand. Sobald Ash unten angekommen war, fand er auch die weiteren Überreste des gepflasterten Wegs, dem sie bisher gefolgt waren – und der scheinbar noch weiter reichte. Zeit und Gezeiten hatten an ihm genagt, sodass die Quader inzwischen umgekippt und schief dalagen, doch es war noch immer deutlich zu erkennen, dass er geradewegs ins Wasser führte und nach wenigen Metern in den Wellen verschwand. Links und rechts der Steine hatte sich ein Teppich aus Algen gebildet. Wozu ein Pfad, der ins Meer führte? Das ergab keinen Sinn.
»Was treibt Savage da draußen? Auf die nächste Fähre warten?« Ash kapierte es nicht. Sie waren hier mitten im Nirgendwo.
»Dann hast du keinen Plan?«, fragte John.
»Ich? Ich bin der starke, aber eher zurückhaltende, schweigsame Typ.«
»Du? Schweigsam? Ich hab noch nie jemanden getroffen, der so viel redet, ohne vorher nachzudenken.«
»Das nehme ich als Kompliment.«
Bis zum Sonnenaufgang würden noch acht Stunden vergehen. Und den Lagerfeuern auf der Insel nach zu urteilen, plante Savage, die Nacht dort zu verbringen.
»Wir warten erst mal ab«, beschloss Ash. »Und geben Parvati Zeit, uns zu finden.«
»Meinst du echt, sie kommt hierher? Wie denn?«
Ash tippte John gegen die Schläfe. »Sie ist clever. Sie hat sicher einen Plan. Wahrscheinlich sogar mehrere.« Gähnend suchte er sich ein trockenes Fleckchen Sand. Hier war es kühl und der Klang der Wellen, die über den Strand rauschten, hatte etwas Einlullendes an sich. »Ich mache ein kleines Nickerchen. Wir wechseln uns ab. Gib mir ein paar Stunden, dann weckst du mich. Einverstanden?«
John lag schnarchend im Gras am Fuß der Steilküste, während Ash am Strand hockte und den blassgrauen Streifen am östlichen Horizont betrachtete. Sein Schlaf war unruhig gewesen. Noch immer verfolgten ihn die Erinnerungen an die verdrehten Untoten, die Ashoka mit dem Koh-i-Noor zum Leben erweckt hatte. Daher war er nach nur wenigen Stunden von selbst aufgewacht und hatte John trotz seiner Müdigkeit den Löwenanteil an Nachtruhe überlassen. Die Lagerfeuer auf der fernen Insel erstarben in ihrer Asche und waren mittlerweile nur noch als schwaches Glühen wahrzunehmen. Zwischen ihnen bewegten sich mehrere Gestalten. Anscheinend hatte Savage einen frühen Aufbruch angeordnet.
Wenn sie etwas unternehmen wollten, sollten sie es besser früher als später tun.
Savage war leicht zu erreichen. Er hatte den Koh-i-Noor.
Was würde Parvati tun? Das war hier die Frage.
Alles, was nötig ist.
Ash verpasste Johns Bein einen Tritt.
»Wa–?« John rieb sich die Augen und schüttelte sich den Sand aus dem Haar.
Ash schlüpfte
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