Ashby House
spürte sie einen fast physischen Druck: Ashby House hatte sich wie ein Sukkubus auf ihre Brust gesetzt.
»Du hassssst ja kaine Ahhhnung, wie schöin Du bist, Berlin …«
Laura war kein Fan von Lucilles Marlene-Dietrich-Imitation, aber sie war dennoch erleichtert, die Schwester gut gelaunt zu sehen. »Na, ein Kurzausflug in die ›Freudlose Gasse‹?«
»Du hassst ja kaine Ahhhhnung«, sang Lucille weiter.»›Die freudlose Gasse‹ ist Pabst in den Zwanzigern, Garbo, nicht Marlene. Die Milch, bitte.« Lucilles Filmkenntnisse waren enzyklopädisch, was ihr in ihrer Arbeit sehr zugute gekommen war. Ihre Starmodelle fühlten sich selten mehr geschmeichelt, als wenn die Fotografin sie in die Goldene Zeit des Hollywood der Dreißiger und Vierziger zurückversetzte, als die Stars noch Götter waren.
Laura reichte ihrer Schwester das Milchkännchen und fragte sich, ob in Lucille eine Art
regressus ad uterum hollywoodiensem
einsetzte. »Gut geschlafen?«
»Wie ein Baby.«
Offenbar war der Lärm aus dem zweiten Stock nicht bis zu Lucilles Schlafzimmer vorgedrungen. Vielleicht war Lucille aber auch völlig zugedröhnt gewesen. »Und, was sind deine Pläne an diesem schönen Tag?« Es war in der Tat ein gleißender Sonnentag. Der Schnee leuchtete blauweiss, sodass man selbst hinter der Fensterscheibe die Augen zusammenkneifen musste. Der Tag war so knusprig wie ein Doris-Day-Album aus den Mittfünfzigern oder fabrikfrische Cornflakes. »Vielleicht ein Rolli-Rennen durch das Erdgeschoss?«
»Ärgere mich nicht, sonst zwinge ich dich, mich eigenhändig nach oben zu tragen.« Lucille lächelte Laura maliziös, aber nicht völlig lieblos an. »Spaß beiseite. Ich bin in der Bibliothek und mache mit meinen Aufzeichnungen weiter.«
»Deine mysteriösen Aufzeichnungen.«
»Daran ist nichts Mysteriöses.« Mit Pokerface schlug Lucille ihr Ei auf.
Das Vermeiden von Blickkontakt verriet Laura, dass ihre Schwester etwas vor ihr verbarg. Sie würde ein wenig hinter ihr her spionieren. Aber das war erst der zweite Tagesordnungspunkt. »Steerpike und ich werden heute nach oben gehen.«
Lucille hielt eine Sekunde zu lange inne.
»Weshalb das? Hat er nicht genug zu tun?«
»Ich bin nur neugierig. Will mich einfach umschauen.«
»Könnt ihr damit nicht warten?«
»Warum warten? Es ist ja nicht gerade so, dass es hier wahnsinnig viele Möglichkeiten gibt, den Tag herumzukriegen.« Die Tatsache, dass nicht nur Steerpike, sondern auch Lucille gegen die geplante Expedition waren, bestärkte Laura in ihrem Vorhaben.
»Wie du meinst. Dann nehmt aber wenigstens die Videokamera mit, damit ich mir nachher anschauen kann, was ich gekauft habe.«
Lucilles Wunsch nach einer Live-Übertragung der Bilder aus dem zweiten Stock hatte das Inspizieren der Räumlichkeiten nun tatsächlich in eine Expedition verwandelt. Steerpike hatte sich angeboten, die D V-Kamera zu schultern, Laura hatte in der Küche eine schwere Stabtaschenlampe gefunden (die man notfalls auch als Schlagwaffe einsetzen konnte, aber diesen Gedanken hatte sie nicht formuliert) und sich eine Werkzeugtasche umgeschnallt.
Lucille schickte die beiden auf den Weg, als die Technik eingerichtet war und die Live-Übertragung über den Plasmaschirm ihres Fernsehers lief. Jetzt, wo sie zumindest virtuell anwesend sein konnte, machte ihr das Vorhaben gute Laune.
Das Vorhängeschloss hatte Steerpike binnen Sekunden mit einem Dietrich geöffnet. Als er die Platte hochstemmte, schlug den Expeditionsteilnehmern kalte, schale Luft entgegen. In Lauras Earpiece knisterte es kurz, dann herrschte Lucille sie an: »Jetzt schalte doch endlich das Licht an!«
Sie tat wie geheißen, und ein kräftiger Lichtstrahl bohrtesich durch die Dunkelheit. Sie befanden sich in einem Raum von der Größe eines Ballsaals, von dem zur Rechten drei Türen abgingen. Auf der linken Seite, die zur Hausvorderseite hinausging, befand sich, mittig platziert, nur eine einzelne Tür. Von der Decke herab drangen Lichter durch die Fetzen eines Vorhangs, der eine gläserne Dachkuppel verdeckte. Laura erinnerte sich an Berichte über das frühe Hollywood. Die Studios waren zu Stummfilmzeiten Glaskisten gewesen, die das kalifornische Tageslicht ausnutzten. Allein aus diesem Grund hatte sich die Filmwelt im hinterwäldlerischen Los Angeles angesiedelt.
An einem Tag wie diesem hätte man in Ashby House ohne Fremdlicht einen perfekt ausgeleuchteten Film drehen können. Vorausgesetzt, man hätte gewusst, wie man
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