Ashes, Band 02: Tödliche Schatten (German Edition)
jagte durch ihren Körper. Wenn sie zuließ, dass man sie mit den anderen zusammenband, konnte sie sich nicht mehr wehren. Das wäre das Ende, so als hätte sie sich dem Monster ergeben. Keuchend sträubte sie sich, entwand sich dem Griff von Wolf, und dann schwang sie den unverletzten rechten Arm und ließ ihn durch die Luft sausen und schrie und schrie und schrie : »Nein, nein. Nein! Das lass ich nicht zu!«
Verblüfft – der Geruch seiner Überraschung stach ihr in die Nase – schnellte Beretta hoch, sodass ihre Faust voll auf sein Kinn traf. Das von Angst freigesetzte Adrenalin brandete in ihren Adern, sie spürte nichts und hörte den Aufprall wie aus weiter Ferne, als hätte jemand in einer Fernsehshow einen Treffer gelandet – ein bloßer Klangeffekt. Als sie später ihre blauen Fingerknöchel begutachtete, kam es ihr wie ein Wunder vor, dass sie sich nicht die Hand gebrochen hatte. Der Schlag streckte Beretta nieder, er plumpste auf den Hintern, während sie durch den Schwung ihres eigenen Schlags und die Schneeschuhe an ihren Füßen aus dem Gleichgewicht geriet. Aus dem Augenwinkel heraus sah sie, dass Schmissie sie zu packen versuchte. Wieder kreischte Alex und versuchte, sich unter ihr wegzuducken, aber die starre Spitze ihres Schneeschuhs steckte im Tiefschnee fest. Sie verdrehte sich das Knie, und dieses Mal schrie sie vor Schmerz. Sie wäre zu Boden gegangen, hätte sich vielleicht sogar das Bein gebrochen, aber da spürte sie eine Hand – Schmissie, dachte sie – , die sie am Genick packte wie eine Katze.
O nein, du Hexe. Erneut durchzuckte sie Schmerz, als der festgeklemmte Schuh freikam, und dann stemmte sie den Fuß in den Schnee, schoss hoch, die Faust gereckt …
Im letzten Moment merkte sie, dass nicht Schmissie sie festhielt.
Blitzschnell schoss Wolfs Hand nach vorn, er umklammerte ihr Handgelenk und fing ihren Faustschlag mitten in der Bewegung ab.
O Gott, bitte. Keuchend versuchte sie, ihren Schlag noch anzubringen, aber sein Griff war eisern. Alex zitterte wie eine Spiralfeder, die unter zu großer Spannung stand. Lass mich das zu Ende bringen. Hilf mir nur noch dieses eine Mal.
»Du solltest dich nicht wehren.« Die zittrige Stimme einer alten Frau. Alex hatte keine Ahnung, welche von den dreien gesprochen hatte und wollte den Blick auch nicht von Wolf abwenden. »Du machst sie nur wütend«, sagte die Alte.
»Sei ruhig, Ruby«, knurrte ein alter Mann. »Sie will es eben lieber früher als später zu Ende bringen. Das ist ihre Sache.«
Allerdings. Und sie würde zumindest im Kampf untergehen und sich nicht von Angst lähmen und brechen lassen wie diese Greise. Wenn Wolf nur eine Sekunde locker ließ, würde sie vollenden, was sie angefangen hatte. Was er offenbar auch wusste, obwohl seine dunklen Augen, so unergründlich wie tiefe Brunnen, nichts verrieten. Sein Atem, geschwängert mit dem Kupfergeruch von halb verdautem Fleisch, strich über ihre Wangen. Das war ihr Blut in seinem Mund, auf seiner Zunge …
Da veränderte sich, wenn auch fast unmerklich, seine Haltung: die Fußstellung, die Straffung der Schultern. Der Griff um ihr Genick wurde fester, und nun wusste sie, was er tat: Er zog sie näher zu sich.
Um mir besser die Kehle durchbeißen zu können. Sie sah, wie er die Zähne fletschte, die Zunge ein bisschen zurückzog. Der überwältigende, für die Veränderten typische Gestank nach totem Tier und dampfenden Gedärmen strömte ihr in Nase und Mund. Um besser mein warmes Blut schlürfen …
Unversehens trat ein anderer, ihr vertrauterer Geruch in den Vordergrund: Kühle Schatten umhüllten sie wie Rauch … und nun mischte sich zart, aber unverkennbar das Aroma knackiger, süßer Äpfel darunter.
Chris. Es war der Geruch von Chris, nur unverblümter, nachdrücklicher, und er berührte sie, fand den Weg zu ihrem Herzen wie zuvor bei Chris. Zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort wäre dies der schwindelerregende, erwartungsvolle Moment gewesen, bevor er seine Lippen auf ihre gepresst hätte, und dann …
Irgendetwas in ihrem Kopf rotierte … und … spannte sich an.
Nein. Mein Gott, was ist das? Das Gefühl war nahezu unbeschreiblich, als würde sich irgendwo in ihrem Gehirn etwas verschieben, als hätte ein Teil davon plötzlich begonnen, sich zu dehnen und zu strecken, um besser sehen zu können. Alex’ Kopf war zugleich benebelt – und übervoll.
Sie erinnerte sich an den kurzen Augenblick, als das Bewusstsein von Wolf in ihres eingedrungen war und
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