Ashes, Band 02: Tödliche Schatten (German Edition)
richtig lag – auch Wolf das Enkelkind von Jess und Yeager war. Waren Jess und Yeager eigentlich verheiratet gewesen? Ihr fiel auf, dass sie keine Ahnung von Jess und ihrer Geschichte hatte, sie wusste nicht einmal ihren Nachnamen. Alex hatte Jess lediglich einmal sagen hören, dass sie mitangesehen habe, wie ihre Töchter starben. Und Chris hatte gesagt, seine Mutter habe ihn verlassen, als er noch ein Baby war. Angeblich hatte er sie nie kennengelernt.
Was also, wenn Chris’ Mutter – eine von Jess’ Töchtern – zwar nach Rule zurückgekehrt wäre, aber nur mit Wolf? Der damals natürlich noch nicht Wolf gewesen wäre, sondern einen Namen gehabt hätte und Freunde, eine Kindheit.
Aber warum? Erstarrt vor Schreck und Verwirrung starrte sie Wolf an, der mit ihren Schneeschuhen in der einen Hand und dem von Jess gepackten Rucksack in der anderen auf sie zukam. Er hatte die Wolfsmaske abgestreift, indem er sich das Fell wie eine Kapuze nach hinten geschoben hatte. Aber warum nur du und nicht auch Chris? Auch aus seinem Geruch wurde sie nicht schlauer, er blieb so unergründlich wie seine Miene. Sogar in dieser Hinsicht glich er Chris: zurückhaltend und geheimnisvoll, gut darin, Barrieren zu errichten und Mauern hochzuziehen. Als er sie allerdings eingelassen und sich geöffnet hatte, war da eine Süße gewesen. Chris hatte nichts anderes gewollt, als sie zu schützen und sich um sie zu kümmern – und was hatte es ihnen beiden gebracht?
Benommen konnte sie nur zuschauen, wie Wolf sich auf ein Knie niederließ, ihren linken Fuß nahm und ihn in einen Schneeschuh schob, den er sorgsam und beinahe zärtlich festschnallte, wie er es vielleicht bei einem Kind getan hätte. Dasselbe machte er mit ihrem rechten Fuß. Als er fertig war, stand er auf und schob eine Hand unter ihren unverletzten Arm. Er zog sie – und sie folgte ihm, mit Herzklopfen und stocksteifen Beinen. Was blieb ihr schon anderes übrig? Was auch immer Wolf und die anderen vorhatten, es würde nicht hier stattfinden. Wenn sie ihren Kopf ebenfalls auf diese Pyramide hätten platzieren wollen, hätte Wolf ihr einfach die Kehle durchgeschnitten und nicht eine Scheibe Alex-Carpaccio abgesäbelt.
Also ging sie mit: hinaus aus dem Kreis, vorbei an den gehäuteten Wölfen – die leeren Augenhöhlen all dieser Schädel starrten ihr hinterher und ins Nichts – , fort von Rule. Fort von Jess und Nathan, von den anderen Mädchen, von Kincaid. Und fort von Chris, in eine unbestimmte Zukunft.
Die vielleicht sehr kurz bemessen war.
Nach etwa einer halben Stunde ließ der Schock nach, und ihr Verstand begann wieder zu arbeiten. Dabei hatte sie dröhnende Kopfschmerzen, als würde direkt neben ihr ständig eine Basstrommel geschlagen. Der höllische Schmerz in ihrer Schulter hämmerte im Takt mit ihrem Puls. Und da die offene Wunde schutzlos Wind und Kälte ausgesetzt war, nachdem Wolf ihren Parka und ihr Hemd dort so sorgsam weggeschnitten hatte, fühlte es sich an, als würden ihr Nägel ins rohe Fleisch getrieben. In ihrer Nase hing der Gestank nach nassem Rost, der von ihrem gerinnenden Blut aufstieg, allerdings tröpfelte immer noch ein warmes Rinnsal über ihren Unterarm in den kaputten Ärmel ihres Parkas. Auch ihr Handgelenk war feucht, und der Handschuh gab knatschende Geräusche von sich. Das Blut kam nicht stoßweise, und es war auch kein Knochen zu sehen, was wahrscheinlich ein gutes Zeichen war, doch das Wissen, dass sie nicht verbluten würde, gab ihr nur wenig Trost.
Wenn sie allerdings die nächsten Stunden überlebte, musste sie sich etwas einfallen lassen, wie sie ihren Arm verarzten konnte. Rasch warf Alex einen Blick seitwärts auf ihren Rucksack, den sich Wolf über die rechte Schulter gehängt hatte. Ob Jess ein Erste-Hilfe-Päckchen eingesteckt hatte? Sie konnte sich nicht erinnern. Aber war es nicht ein gutes Zeichen, dass Wolf sich überhaupt die Mühe machte, ihren Rucksack mitzunehmen? Sie grübelte. Möglicherweise schon, falls die Veränderten vorhatten, sie noch eine Weile am Leben zu lassen. Die Jugendlichen hatten vermutlich wenig Verwendung für Energieriegel und Studentenfutter, aber eine Gefangene brauchte Verpflegung.
Aufgabe Nummer eins war es, nicht die Orientierung zu verlieren, herauszubekommen, wohin die Reise gehen sollte, und sich eventuell einen Fluchtplan zu überlegen. Aber wohin? Nicht zurück nach Rule jedenfalls. Sie dachte an die Trillerpfeife, die sie von ihrem Vater bekommen und bei dem Jungen im
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