Ashes Bd. 1 Brennendes Herz
ihren Knöcheln. Sie hielt inne und wischte sich den Schweiß von der Stirn, dann ging sie das Problem so analytisch an wie eine Geometrieaufgabe: Wenn sie a) sehr viel Zeit hätte und sich b) nicht um ein Kind kümmern müsste, hätte sie c) eine reelle Chance, ihre Ausrüstung zu finden.
Doch soweit sie es nach dem Schrott beurteilen konnte, den sie bisher gefunden hatte, bestand ihr Rucksack sehr wahrscheinlich nur noch aus Fetzen und sein Inhalt war über den halben Berg verstreut wie Trümmer nach einem Flugzeugabsturz.
Also war ihre Ausrüstung futsch.
Sie ging denselben Weg zurück und versuchte dabei, sich die Karte ins Gedächtnis zu rufen. Wenn sie sich beeilten, schafften sie vor Einbruch der Dunkelheit vielleicht noch sechs bis acht Kilometer. Dann wären sie an dem Zeltplatz, wo sie hatte übernachten wollen, oder? Ja, der Zeltplatz lag ein paar Hundert Meter abseits vom Hauptweg und hatte wahrscheinlich sogar eine feste Feuerstelle. Mit ein bisschen Glück fanden sie auch noch einen Unterstand.
Zwischen den Bäumen entdeckte sie einen pinkfarbenen Fleck. Da stand Ellie, mit dem Rücken zu Alex, und starrte auf etwas hinunter. Dann sah Alex, dass ihre Notfallsachen auf dem Boden aufgestapelt lagen. Wie kam das? Sie erinnerte sich genau, dass sie alles wieder eingeräumt hatte. Weil sie gleich wieder zurück sein wollte, hatte sie die Gürteltasche dagelassen, aber was tat Ellie …
»He!« Sie schlug die Zweige beiseite. »Was machst du da?«
Als sie Alex’ Stimme hörte, sprang Ellie auf und warf einen verschreckten Blick über ihre Schulter, aber offenbar gefiel ihr nicht, was sie da sah, denn sie ging, die Hände in Abwehrhaltung, rückwärts, während Alex aus dem Gestrüpp brach. »Ich hab nur geguckt!«
Alex schaute auf den Boden, und ihr rutschte das Herz in die Hose.
Die Mappe war offen.
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I ch wollte dir nichts wegnehmen«, sagte Ellie. Ihre Stimme klang, als hätte sie etwas Klebriges im Mund, und in ihrem Atem lag ein Hauch von Zimt. »Ich wollte nur helfen.«
»Helfen?« Alex’ Stimme bebte und war heiser vor Wut. »Du hast einen ganzen Energieriegel gefressen.«
»Ich hatte Hunger.« Ellie versuchte trotzig zu schauen, was aber nur umso armseliger wirkte. Auf einer Wange glitzerte eine Tränenspur.
Sie hätte das Mädchen am liebsten erwürgt. Und nicht nur wegen des Energieriegels. »Du hast eine ganze Tagesration verdrückt …«
»Es war nur ein Riegel …«
»Und du wolltest wissen, was in der Mappe ist! Deshalb hast du meine ganzen Sachen durchwühlt.«
»Na und?«, schrie Ellie und stampfte mit dem Fuß auf. Ihre Augen blitzten. »Mach deswegen doch nicht so ein Theater! Da sind ja nur Tüten drin und eine Bibel. Warum trägst du denn solchen Mist mit dir rum?«
»Das ist kein Mist.« Tante Hannahs Bibel lag auf dem Boden. Streng genommen gehörte die Bibel nicht dazu, aber sie war stabil und ein guter Puffer für die zwei Tüten aus extra festem Plastik.
Ellie hatte auch den Brief herausgezogen. »Alexandra Bethany« stand in flippig violetter Tinte quer über dem Umschlag, und das Papier roch ein kleines bisschen nach Lavendel und Gewürzen. Alex hatte den Brief einfach irgendwo in die Bibel gelegt und nicht als Lesezeichen für einen bestimmten Absatz, für sie war die Bibel nie ein Ouija-Brett gewesen. Aber irgendwie hatte der Brief trotzdem ins Buch Hiob gefunden: Darum spreche ich mich schuldig und tue Buße in Staub und Asche.
»Bist du das?«, fragte Ellie.
Alex antwortete nicht. Als sie den Umschlag umdrehte, sah sie, dass er noch zugeklebt war. Sie schob den Brief wieder zurück an seinen Platz ins Buch Hiob und legte die Bibel unten in die Mappe. Dann nahm sie vorsichtig die größere der beiden Plastiktüten in die Hände. Sie wog bestimmt sechs, sieben Pfund und konnte leicht reißen, aber trotz sorgfältiger Prüfung entdeckte sie keine Löcher und Risse darin. Der Inhalt war klumpig und grau und fühlte sich wie Sand an – und einen Moment lang war sie versucht, sich einzureden, es sei tatsächlich nur Staub.
»Warum trägst du Dreck mit dir herum?«, fragte Ellie.
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M achen wir bald Rast?« Als Alex nicht antwortete, versuchte es Ellie anders. »Es wird schon dunkel. Sollen wir nicht …«
»Ja«, erwiderte Alex, ohne sich umzudrehen. Sie waren jetzt schätzungsweise zwei Stunden ohne Unterbrechung und praktisch wortlos dahinmarschiert. Inzwischen trafen die Sonnenstrahlen im rechten Winkel auf die Baumstämme, und das Licht schwand,
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