Ashes Bd. 1 Brennendes Herz
was sie mit den Sachen machen sollte. Wenn es so weiterging, würde sie die Mappe ihr Leben lang mit sich herumschleppen, aber das würde ja vielleicht nicht mehr allzu lange sein. Tom hätte sie von dem Tumor erzählen können, sie sollte es sogar. Sie vertraute ihm, und sie waren aufeinander angewiesen. Ein Mann, der im Krieg gewesen war – der Bomben entschärft hatte –, wusste doch bestimmt über Albträume und Monster Bescheid. Aber jedes Mal, wenn sie erwog, es ihm zu sagen, spürte sie den vertrauten Stachel der Angst. Sobald Leute von Alex’ Tumor wussten, veränderten sie sich. Sie waren verlegen, vermieden es, ihr in die Augen zu schauen, und sie spürte, dass sie erleichtert waren, wenn sie ihr ausweichen konnten. Schlimmer noch, sie wusste genau, was sie dachten: Besser sie als ich.
Die Angst hielt sie zurück, aber da war noch was. Es stimmte, Tom war zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen, aber seine Familie war in Maryland. Er hatte gesagt, dass er im Dezember zurück zu seinem Einsatz musste. Würde jemand, der wieder in den Krieg ziehen sollte, nicht Zeit mit seiner Familie verbringen wollen?
Außerdem schlief Tom wirklich kaum, jedenfalls längst nicht genug. Bestenfalls ein paar Stunden. Warum? Was sah er, wenn er die Augen schloss? Sie fragte ihn nicht, aber an der Art, wie er sie ansah – oder wie er manchmal ihre Hand nahm oder ihren Arm berührte, oder wie er Ellie mit solcher Umsicht und Geduld behandelte –, merkte sie, dass Tom Angst hatte. Sie beide zu verlieren? Vielleicht. Oder seine Angst ging tiefer, betraf etwas, was er bereits verloren hatte. Alex wusste nur so viel: So stark und fähig und tapfer er sein mochte, auch Tom hatte seine Geheimnisse.
Doch es gab auch andere Zeiten: Wenn sich ihre Blicke trafen und sein Geruch so verlockend wurde, dass ihr Herz für einen Schlag aussetzte. Manchmal ließ sie sich dazu hinreißen sich auszumalen, wie sich seine Lippen auf den ihren anfühlen mochten. Manchmal ließ sie ihrer Fantasie noch freieren Lauf – und fragte sich, ob er dasselbe dachte.
Aber sie unternahm von sich aus nichts. Sagte nichts. Fragte nichts. In ihrem Kopf war ein Monster. Es zu verschweigen, wäre weder fair noch richtig, und kein Mann würde sie wollen, wenn er das wüsste, nicht einmal Tom.
Also zog sie den Reißverschluss der Mappe zu, verstaute sie wieder in der Gürteltasche und beschloss, nicht mehr darüber nachzudenken.
Am Ende der ersten Novemberwoche – sechs Wochen nach dem Blitz – hatte sie sich immer noch nicht verwandelt, dafür schlug das Wetter um. Tom kam mit einem Arm voll Feuerholz herein und verkündete die Neuigkeit, woraufhin Alex rausging und nach Norden schaute. Der Tag war trüb, der Wind wehte allerhand Gerüche heran – auch den von kaltem Aluminium –, und sie betrachtete die schiefergrauen Quellwolken am Himmel.
Diesmal brauchte sie ihren besonderen Instinkt nicht anzustrengen. »Schnee.«
»Mhm. Und zwar demnächst«, sagte Tom. »Wir müssen uns entscheiden. Gehen oder bleiben.«
Alex hörte Ellie, die im Nebenraum Wäsche zusammenlegte und mit Mina sprach. »Ich weiß nicht, Tom. Wie wär’s, wenn wir bleiben? Hier hat uns niemand belästigt. Wir alle haben keine Familie mehr, zu der wir gehen könnten, und wir wissen, dass das Leben in den Städten gefährlich ist.«
Jede Nacht hatten sie und Tom auf dem alten Feuerwachturm den Funkverkehr abgehört und versucht, so viele Informationen wie möglich zusammenzutragen. Nicht selten empfingen sie nur statisches Rauschen, aber aus den wenigen Funksprüchen, die zu verstehen waren, wussten sie, dass beide Küsten praktisch Todeszonen waren: Dort tobten Brände, das Gebiet war radioaktiv verseucht oder beides. Überall sonst herrschte Chaos, und eine Regierung war anscheinend nicht mehr im Amt, jedenfalls nicht in den USA. Sie hatten auch mitbekommen, dass Stan nicht der Einzige war, den ein jäher Tod ereilt hatte. Sehr viele Menschen – Millionen – waren in den ersten Augenblicken gestorben. Und es war noch mehr zu hören: wirre Geschichten über Kannibalen und durchgeknallte Zombies und Jugendliche, die plötzlich den Verstand verloren. Von Jugendlichen war sogar oft die Rede.
»Es ist genug Holz da«, sagte sie jetzt. »Wir haben Wasser und Lebensmittel.«
»Stimmt, im Moment jedenfalls. Wenn der Frühling kommt, brauchen wir neue Vorräte.«
»Wir könnten jagen. Im Keller gibt es eine Menge Munition. Wir haben auch genug Gewehre, und Pfeil und
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