Ashes - Pechschwarzer Mond (German Edition)
Cisplatin schäumte durch die Bäume. Der rote Sturm war ein Pochen mitten auf ihrer Stirn, wie ein verborgenes drittes Auge, das sich unbedingt öffnen will. Entscheide dich.
Statt die Stiefel anzuziehen, band sie die Schnürsenkel zusammen und hängte sie sich um den Hals. Ihre brennenden Füße wurden allmählich gefühllos, aber Fußabdrücke fielen weniger auf als die von Stiefeln. Während sie sich die Springfield mit dem Gurt über die Schulter hängte wie ein Samuraischwert, beugte sie sich über die Leiche. Lediglich aus dem zerstörten linken Auge tröpfelte zähflüssiges Blut. Die Spritze kann ich nicht zurücklassen. Damit wirke ich nicht nur gefährlich, sondern auch noch absonderlich. Sie biss die Zähne zusammen, packte die Plastikröhreund zog. Wieder spürte sie das Schaben am Knochen, und als sich die Kanüle löste, füllte sich die Augenhöhle mit Blut. Schaudernd und mit zitternden Fingern steckte sie die Kappe wieder auf die Nadel und ließ die Spritze in einer Tasche ihrer Cargohose verschwinden. Dann nahm sie dem Jäger seine schicke 3- D-T arnjacke ab.
»Komm«, wisperte sie dem Wolfshund zu. Das Pochen des roten Sturms, das ständige Pusch-pusch, ließ sie zusammenzucken. Sie schürzte die Oberlippe, als Blut aus ihrer Nase sickerte. Eine Hand an die Nase gepresst, huschte sie die fünfzig Meter zu einem wuchernden Brombeergestrüpp und fuhr jedes Mal zusammen, wenn es unter ihren tauben Füßen knackte. Sie hörte das Hecheln des Wolfshunds, der ihr folgte. Gut. Die Spuren des Tiers würden die ihren überdecken.
Hier war der Wald dicht, das Unterholz nahezu undurchdringlich. Sie warf sich in den Schnee, presste das Gewehr an sich und zwängte sich durch eine Lücke zwischen zwei Brombeersträuchern, die so nah nebeneinander wuchsen, dass sich ihre Zweige verflochten. Die stacheligen Ranken verfingen sich in ihrem Haar, rissen schmerzhaft an ihrer verletzten Kopfhaut und – verdammt, die Sanitätertasche war ja immer noch unter der Fichte. Keine Zeit, keine Zeit. Als sie meinte, tief genug vorgedrungen zu sein, drehte sie sich auf dem Bauch um und wollte das Tier zu sich locken, aber der Wolfshund folgte ihr bereits. Kluger Junge. Er wusste offenbar, dass ihnen etwas Böses auf den Fersen war.
Sie warf einen besorgten Blick zurück, sah aber keine leuchtend rote Blutspur im Schnee. Gut, das muss reichen, denn die Zeit wird knapp, Schätzchen. Sie füllte die Lücke zwischen den Sträuchern mit Schnee, legte dem Tier den Arm um den Hals, setzte sich auf die Fersen und duckte sich. Das Dornengestrüpp war so dicht, dass es sie vielleicht wirklich unsichtbar machte, sofern sie absolut still blieben. Es könnte funktionieren. Jäger saßen ja oft stundenlang auf der Lauer in ihrem Hochsitz. Und fünfzig Meter waren ein halbes Fußballfeld. Auf solch eine Distanz konnte man durchaus untertauchen. Viele Menschen übersahen das Offensichtliche, das sie jeden Tag deutlich vor Augen hatten. Der Geruch … dagegen konnte sie nichts tun. Hier wehte kein Wind, nicht einmal ein Lüftchen. Aber sie musste immerzu an Darth denken und dann an die Wolftotems, die hoch oben neben dem Proviantsack hingen. Das musste irgendetwas zu bedeuten haben …
Sie hörte ein dumpfes Geräusch, dann noch eins. Büsche wurden auseinandergebogen, Zweige brachen, Schnee knirschte. Sie bewegten sich nicht sonderlich behutsam, aber vielleicht hielten sie das nicht für nötig. Der Chemotherapie-Mief des veränderten Jungen war jetzt überall. Doch der Geruch von diesem Mann in Schwarz, dem Auge im roten Sturm, war ebenfalls deutlich zu erkennen. Unwillkürlich rümpfte sie die Nase: eindeutig alt, der Moder feuchter Wollsocken, aber auch gesättigt von dem Gestank verschmutzten graugrünen Wassers, das verdampften Urin und schaumige Waschmittel ausdünstete, so wie der Chicago River nach einem Unwetter.
So viele Informationen ihre Nase auch lieferte, Alex konnte nicht weiter als einen halben Meter über ihren Schutzwall aus Gestrüpp hinaus sehen. Irgendwie machte es das Ganze noch beängstigender, weil sie dem grauenhaften Geruch kein Gesicht zuordnen, ihn nicht auf ein menschliches Maß reduzieren konnte. Es war, als würde man im Dunkeln in einem Spukschloss herumtasten, wo die eigene Fantasie alles noch viel schlimmer aussehen ließ, als es tatsächlich war. Hör auf, hör auf. Mit zusammengebissenen Zähnen trotzte sie der Furcht, die sie zu übermannen drohte. Sie schauderte, jeder Muskel wollte sich
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