Ashes - Pechschwarzer Mond (German Edition)
hielt den Atem an und lauschte. Es war unnatürlich still. So nah an der Stadt hätte er etwas hören müssen: das dumpfe Tock einer Axt, das Rumpeln eines Wagens oder das Klappern von Pferdehufen. Und vielleicht hin und wieder eine Stimme. In der Totenstille des Hindukusch hatte er einmal unten an einem Berghang patrouilliert und Bruchstücke des Abendgebets aufgeschnappt, das mehr als dreitausend Meter über ihm in einem Paschtunendorf gesprochen wurde, das er nie zu Gesicht bekommen hatte. Aber hier? Kein Laut.
Wo sind die alle? Er war überzeugt, dass er nicht zu spät kam. All diese Männer mit ihren Wagen und Pferden – und jetzt auch noch die Jugendlichen – , er musste einfach einen Vorsprung vor Mellie und diesem alten Kommandeur in Schwarz haben. Wahrscheinlich nur einen halben Tag, aber selbst ein paar Stunden waren besser als nichts.
Irgendwas läuft hier richtig schief. Da, zu seiner Rechten, eine kleine Bewegung; er sah gerade noch, wie eine Feldmaus aus einer leeren Augenhöhle des einsamen Schädels lugte. Das Tier erstarrte, nur seine Schnurrhaare bebten, bevor es eine Kehrtwende machte und davonhuschte. Etwas ist faul im Staate Dänemark.
Höchste Zeit herauszufinden, was. Und hoffentlich genug Zeit, um die Kinder zu retten.
Es musste ein alter Quecksilberschalter aus einem ausgemusterten Thermostat gewesen sein, der mit einer Batterie verbunden war. Räum den Müll weg, komm dabei an den Schalter, die Kontakte sprühen Funken, und bumm . Kinderleicht zu bauen, diese Bombe.
In der einen Sekunde rief er noch nach Weller und raste zur Kirche. In der nächsten war ihm sehr kalt und er lag gekrümmt auf der Seite – zum Glück, denn sein Mund war voll altem Kupfergeschmack, und Blut trocknete ihm unter der Nase und am Hals. Hätte er auf dem Rücken gelegen, wäre er vielleicht an seinem eigenen Blut erstickt. Sein Brustkorb fühlte sich an, als hätte jemand einen Felsbrocken draufgeknallt. In seinen Ohren rauschte es, und sie taten weh, ein klarer Hinweis, dass seine Trommelfelle noch intakt waren. Zuerst hatte er vermutet, dass das Geräusch nur von der Druckwelle stammte, aber als er sich auf den Rücken drehte und dabei vor Schmerz aufkeuchte, sah er kompakte schwarze Rauchwolken in den blauen Himmel steigen. Ihm wurde klar, dass er das gedämpfte Fauchen eines Feuers hörte, das erst noch niederbrennen musste.
Sich aufzusetzen, war eine entsetzliche Quälerei. Alles tat ihm weh. Allerdings hustete er kein Blut mehr, seine Lunge war also vielleicht unversehrt. Eine Explosion konnte einen auf vielerlei Arten töten. Manche waren schneller als andere – wenn man verdampfte oder von einem Schrapnell durchbohrt wurde oder verblutete, weil man ein Bein verloren hatte. Hatte man das Pech, zu nahe an einer Druckwelle zu sein, konnten – mal schnell, mal langsam – die Hohlorgane platzen, also Luftröhre, Herz und Darm, oder auch die Lunge. Als er sich schließlich aufgerappelt hatte, stützte er sich auf die Ellbogen und konzentrierte sich darauf, Luft in seine schmerzenden Lungenflügel einzusaugen und auszustoßen. Dabei nahm er in Augenschein, was von der Kirche übrig geblieben war – und ihm wurde klar, wie viel Glück er gehabt hatte.
Die Kirche sah aus wie aus einem Reiseprospekt, der für Touren zu Burgruinen warb. Von dem geborstenen Turm kündete nur noch ein Kreis aus Stein und gesplittertem Holz. Zerbeulte Bronzeglocken und weiträumig verstreute Buntglasscherben glitzerten auf dem Schnee. Die Explosion war stark genug gewesen, um die kleineren Glocken bis zum Waldrand zu schleudern, wo früher der Parkplatz der Kirche gewesen war. Auch die Wipfel verschiedener Bäume in der Nähe, vor allem die großer Nadelbäume, waren auseinandergebrochen, während andere, dünnere Harthölzer von der Druckwelle gefällt worden waren. Drei Mauern standen noch, aber die Ruine der Kirche war eine ausgeweidete Hülle, umgeben von kaputten Kirchenbänken und herumflatternden Resten ramponierter Gesangbücher.
Eigentlich müsste er tot sein. Sie hatten die Pferde etwa zweihundert Meter entfernt angebunden. Nachdem er sie geholt hatte, musste er etwa die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht haben, bevor er die Zügel fallen ließ und zur Kirche gesprintet war. Dann noch mal fünfzig Meter bis zur Detonation? Egal, jedenfalls verdammt nah dran. Zu nah. Sonst hätte es ihn nicht so weit zurückgeschleudert, und er hätte nicht das Bewusstsein verloren und aus Nase und Ohren geblutet. Wäre es in
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