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Ashford Park

Ashford Park

Titel: Ashford Park Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Willig
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Addies Vater sagte. Ob aus Loyalität oder weil er fand, dass so etwas sich in der Familie nicht gehörte, das konnte Addie nicht sagen. In Wirklichkeit hatte es bedeutet, dass niemand überhaupt je über ihren Vater gesprochen hatte. Wäre es doch nur anders gewesen. Sie erinnerte sich an so wenig, und es war so lange her, dass sie die feine Linie zwischen Erinnerung und Erfindung längst aus den Augen verloren hatte.
    Wenn sie die Bücher ihrer Mutter las, so war es, als sähe sie die Welt von innen nach außen gekehrt, vertraute Refrains und Ideen auf den Kopf gestellt. Nur konnte sie sich, wenn sie die Worte ihrer Mutter las, des Gefühls nicht erwehren, dass die Welt, wie sie sie kannte, die ganze Zeit eine verkehrte gewesen war und sie sie erst jetzt richtig sah. Sie hatte nie die Schönheit in der Armut gesehen oder die Armut im Reichtum, bis ihre Mutter sie ihr darlegte. Sie war nie auf den Gedanken gekommen, Tante Veras eherne Gesetze in Zweifel zu ziehen oder zu fragen, ob korrekt zu sein das Gleiche war wie gut zu sein.
    Tante Vera hatte sie unter Zwang gelehrt, wie man sich verhielt und wie nicht. Ihre Mutter hatte sie hingegen gezwungen zu fragen: «Warum?»
    «Haben Sie die Bücher meiner Mutter gelesen?», fragte sie.
    «Ja. Vor dem Krieg …» Sein Gesicht verdunkelte sich, die Lippen wurden schmal, als wollte er etwas zurückdrängen. Addie kannte diesen Ausdruck, sie hatte ihn bei den Männern im Lazarett gesehen, eine Mischung aus Zorn und Verlust.
    «Und wie fanden Sie sie?», fragte Addie hastig.
    Captain Desborough zwinkerte, als hätte er Mühe, sie in den Blick zu bekommen. «Wie … Ach so, ja. Die Bücher Ihrer Mutter. Ich kann diese Frage wahrscheinlich nicht befriedigend beantworten. Meiner Meinung nach besaß sie ein seltenes Talent, sowohl das Beste als auch das Schlimmste in der menschlichen Natur zu erkennen und beides wirklichkeitsgetreu zu beschreiben. Wir bekommen all die feigen Heucheleien nicht nur der Reichen, sondern auch der Armen zu sehen.»
    «Aber auch ihre Fähigkeit, sich zu befreien», sagte Addie eifrig. Wenn die Bücher ihrer Mutter sie etwas gelehrt hatten, dann war es das: dass Unvermeidlichkeit nur unvermeidlich war, wenn man selbst es zuließ. Die besten Figuren ihrer Mutter drückten dem Leben ihren eigenen Stempel auf, gestalteten selbst ihr Schicksal. Addie wünschte nur, sie besäße den Mut, es ihnen gleichzutun.
    Irgendwo in der Nähe hatte ein Automobil eine Fehlzündung. Bei dem Knall zuckte Captain Desborough zusammen, und sein ganzer Körper spannte sich an.
    «Befreiung», sagte er trübe. Auf seiner Stirn standen Schweißtropfen, die eben noch nicht da gewesen waren. Er ging weiter, viel schneller als vorher. «Sie glauben doch diesen Unsinn nicht?»
    «Das ist kein Unsinn.» Addie musste laufen, um mit ihm Schritt halten zu können. «Es ist der beste Teil am Menschsein. Die Fähigkeit, aus unseren Fehlern zu lernen und eine höhere Bewusstseinsebene zu erreichen.»
    «Sie haben wohl freie Vorlesungen besucht?» Es klang abwertend. «Wenn Sie in den Zeitungen nicht nur Gedichte gelesen hätten, wüssten Sie, dass das höhere Bewusstsein kaum eine Gabe der Menschen ist. Wir laufen wie die Ratten immer wieder in dieselben vergifteten Löcher zurück … Wie die Ratten …»
    «Das ist ja absurd. Wir sind keine Ratten. Es ist doch genau die Fähigkeit zur Vernunft, die den Menschen vom Tier unterscheidet.»
    Captain Desborough lachte kurz und unfreundlich. «Davon habe ich reichlich wenig gemerkt.»
    «Deshalb ist ja die Dichtung so wichtig», erklärte Addie aufgeregt. Sie hatte darüber noch nie mit jemandem aus ihrem täglichen Leben sprechen können, nicht mit Bea, nicht mit Dodo und ganz sicher nicht mit Tante Vera. «Sie zwingt die Leute nachzudenken, die Dinge neu zu bewerten. Wenn wir es alle zusammen versuchen, könnten wir die Welt bestimmt zum Besseren verändern.»
    «Mit einem Tässchen Tee nach dem anderen?», fragte er spöttisch.
    Sie sah ihn bestürzt an. Er machte sich über sie lustig. Wenn man es so sah, erschien die Arbeit bei der
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tatsächlich läppisch, so läppisch wie die Tätigkeit in einem Modehaus oder für eine Klatschspalte. Ihr wurde heiß vor Scham. Von wegen ‹Flirt› und ‹kluger Diskussion›. Sie hatte sich vollkommen lächerlich gemacht, und weswegen das Ganze? Wegen der Erinnerung an eine Maus?
    Sie bot ihm mit würdevoller Geste die Hand. «Danke für die Begleitung, Captain Desborough. Es war

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