Assassini
geisterhafte Bild, wie sie mir in irgendeinem Korridor mit ausgestreckter Hand entgegenkam und mir irgend etwas zu sagen versuchte, das ich nicht verstand, und ihr Gesicht – alt oder jung? – war in den Schatten nicht zu erkennen, und ich roch den Duft ihres Parfüms, und so sehr ich mich auch anstrengte, ich verstand nicht, was sie sagte, ich hatte versagt, wie ich mein ganzes Leben versagt hatte; denn ich wußte, das, was sie mir sagen wollte, war so ungeheuer wichtig für uns beide, und trotzdem konnte ich es nicht hören … Und dann – Jahre später? Monate später? – springt sie über das Geländer der Galerie; das Geräusch, die blutigen Augen, die Pfütze aus Gin und Wermut und der Geruch ihres Parfüms, der sich mit dem Geruch nach Blut und Martini und Tod vermischte …
Sie und der arme Etienne LeBecq, mein Opfer in dieser ganzen verdammten Sache, tauschten in meinen Träumen die Plätze; ich konnte sie nicht mehr auseinanderhalten; alles war vermischt und verschwommen und unversöhnlich.
Doch aus bestimmten Gefängnissen gibt es nun mal kein Entkommen, sie sind absolut ausbruchssicher, und man ist sein Leben lang darin eingesperrt. Es war an jenem Abend die Wahrheit gewesen, es war immer die Wahrheit gewesen.
Die Driskills wußten alles über den Kerker des eigenen Verstandes.
In Paris war ich sonst immer im George V abgestiegen, doch ich hatte eine große Wandlung durchgemacht. Wie meine Schwester war ich mißtrauisch und vorsichtig geworden. Darum nahm ich mir diesmal ein Zimmer in einem unbekannten kleinen Hotel am linken Seineufer, am Boule Miche. Das Zimmer war lang, schmal und sauber und roch nach Möbelpolitur. Es lag in einem Gebäudewinkel und besaß zwei von diesen unzulänglichen französischen Balkonen; vom ersteren aus hatte man einen Blick auf den Boule Miche, und vom anderen, der sich vor dem großen, dreieckigen Badezimmer befand, konnte man hinunter auf die Seitenstraße und ein hellerleuchtetes Pizzarestaurant blicken. Es war ein kühler, diesiger Abend, begleitet vom rollenden Donner eines winterlichen Gewitters. Der Nachthimmel schimmerte rosafarben von den Lichtern der Stadt. Der Verkehrsstrom floß ruhelos den Boulevard entlang, als würden die Einwohner nervös und gespannt auf das Einsetzen des Novemberregens warten. Ich wußte aus Erfahrung, daß am nächsten Morgen die Lichterpracht, die wie ein billiger Schwindel wirkte, verschwunden sein und Paris sich regnerisch, trist und grau präsentieren würde, und so sollte es auch sein, ungeachtet seines Charmes und seiner weltberühmten Sehenswürdigkeiten.
Die Bettlaken waren steif von Stärke, die Daunenkissen schwer und weich, und ich war zu müde, um nachzudenken. Ich schlief über Wodehouses Leave it to Psmith ein. Vielleicht würde ich immer ein Unschuldiger bleiben – im Sinne LeBecqs. Ich glaubte, Val aus weiter, weiter Ferne über ihren großen, dummen Bruder lachen zu hören.
Ich wurde erst spät am nächsten Morgen durch leises Klopfen an der Tür geweckt. Ein Schlüssel drehte sich im Schloß, und das Mädchen von der Rezeption kam lächelnd ins Zimmer und brachte mir mein Frühstück, das ich im Bett zu mir nahm. Ich beobachtete, wie die Regenschlieren an den Scheiben der Fenster hinunterliefen, die ich über Nacht einen Spaltbreit offengelassen hatte. Der Himmel war von einem makellosen Perlgrau. Ich hatte auch im Bad das Fenster offengelassen und die Zugluft, die nun durchs Zimmer wehte, streifte kühl und erfrischend über meinen Körper, als ich mich im Spiegel betrachtete: hager, eingefallen, mit einem stoppeligen Dreitagebart und Augen, die so müde und erschöpft waren, daß sie diesen Ausdruck vielleicht für immer beibehalten würden. Ich machte mich daran, die Schäden zu beheben, so gut es ging. Hin und wieder überlagerte widerhallender, krachender Donner das leise, beständige Plätschern des Regens draußen auf dem Balkon. Nachdem ich lauwarm geduscht hatte, wechselte ich den Verband auf dem Rücken. Obwohl mir die letzten Tage körperlich und geistig schwer zu schaffen gemacht hatten, schien die Wunde allmählich zu verheilen. Ich nahm vorsichtshalber trotzdem ein paar Schmerztabletten. Dann trat ich hinaus auf den kleinen Balkon und blickte hinunter auf die Passanten, die, in Regenmäntel gehüllt, mit ihren Hunden Gassi gingen und sich an Straßenständen die Morgenzeitungen kauften oder in den Eingängen von Cafes standen und ihre allgegenwärtigen Zigaretten rauchten.
Ich wußte jetzt, was
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