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Assassini

Assassini

Titel: Assassini Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Gifford
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nicht mehr auf die Stufen vor dem Altar knien wie damals, und man empfing nicht nur die Hostie, sondern auch das Blut Christi. Daß man stehenbleiben durfte, empfand ich als Fortschritt, denn so ging es schneller; das alles war mir nämlich ziemlich egal. Denn, meine Güte, da oben im Sarg lag meine kleine Schwester.
    Ich hielt die Grabrede: der ältere Bruder, der die jüngere Schwester überlebt, in der Blüte ihres Lebens dahingerafft, und so weiter und so weiter. Gottes Wege sind unergründlich und ähnliches Bla-bla. Den gelegentlichen Schluchzern und – an den entsprechenden Stellen – dem wehmütigen Lächeln und Kopfnicken meiner Zuhörer nach zu urteilen, konnte ich die Rede als erfolgreich einstufen. Ich sorgte dafür, daß meine Anmerkungen auf Armlänge außer Reichweite meiner Gefühle blieben. Val hätte ihre helle Freude daran gehabt, meine scheinheiligen Worte zu hören. Ein kleiner Scherz unter uns, Val, wie es so viele gegeben hatte, nicht wahr? Auf eine andere Weise hätte ich es jedenfalls nicht geschafft, hätte ich nicht durchgehalten. Dieser Meute hätte ich meine bloßliegende Seele um keinen Preis präsentiert. Nach meiner Ansprache wurde ein Lied gesungen, und die Trauergäste marschierten nacheinander aus der Kirche; der schlimmste Teil der Show war somit geschafft.
    Val wurde auf dem Friedhof beigesetzt, der sich unmittelbar an die kleine Kirche anschloß. Die Inschriften auf den ältesten Grabsteinen führten in ferne Zeiten zurück. Hier, auf diesem Friedhof, befand sich die Familiengrabstätte der Driskills. Meine Mutter ruhte hier und die Eltern meines Vaters. Und jetzt Val. Es blieb noch reichlich Platz für meinen Vater und mich. Die Driskills verzichteten auf monumentale Denkmäler: statt dessen nur schlichte, strenge Grabsteine. Unsere Werke, pflegte mein Vater zu sagen, sind unser Denkmal. Dieser Ausspruch ließ mich immer an ein Gedicht denken, das ich in der Schule hatte auswendig lernen müssen, ›Ozymandias‹: Schaut auf meine Werke, ihr Mächtigen, und verzweifelt …
    Der Wind war kalt und schneidend, und verdammt sollte ich sein, wenn ich hier mit klappernden Zähnen stehenblieb, während die Tränen, die mir übers Gesicht liefen, zu Eis gefroren, und das alles nur, um dabei zuzuschauen, wie die Kiste in der Erde verschwand. Ich war schon verzweifelt und wütend genug wegen des irrationalen Hasses, den ich verspürte, weil Val hier und jetzt zur letzten Ruhe gebettet wurde: ein Haß, der sich auf die kindische, aber nichtsdestoweniger erschreckende Vorstellung gründete, daß eine noch lebende Val hier bei vollem Bewußtsein beigesetzt wurde, in den vielen dunklen, kalten Nächten allein gelassen wurde, die in diesem Winter bevorstanden. Ich verließ die kleine Gruppe enger Familienfreunde, die am Grab ausharrten, um den letzten Akt des Dramas über sich ergehen zu lassen, und schlenderte davon. Schwester Elizabeth und Margaret Korder blieben bei den anderen.
    Und dann stand ich unter den dunkelgrauen Wolken an der schwarz gestrichenen Eisenumzäunung, welche die Grenze des Friedhofsgeländes markierte. Jenseits des Zauns waren einige überwucherte, offenbar alte Begrenzungsmarkierungen zu erkennen. Dann entdeckte ich das Tor. Ich öffnete es und trat hindurch. Mir waren die kleinen, traurigen Grabsteine noch nie aufgefallen, auf die ich nach wenigen Schritten stieß, aber irgend etwas zog mich – mein Unterbewußtsein oder vielleicht das Schicksal – zu ihnen hin.
    Father Vincent Governeaus ungepflegtes Grab war fast völlig überwuchert von Disteln und Fingergras; der Grabstein war eine einfache Tafel auf dem Boden; der eingemeißelte Name und das Geburts- und Todesjahr waren verwittert und kaum noch zu entziffern: 1902-1936. Der angebliche Selbstmörder hatte nicht in geweihter Erde beerdigt werden dürfen.
    Ich muß dort länger gestanden haben, als mir bewußt war, denn Schwester Elizabeth gesellte sich zu mir, nachdem die Begräbniszeremonie für Val offenbar beendet war. Sie kniete nieder, um zu sehen, was meine Aufmerksamkeit erregt hatte. Sie trug ein abgewandeltes Modell der traditionellen alten Ordenstracht, ein Kleidungsstück, das sie in Vals Wandschrank gefunden hatte. Zuerst hatte es mich ziemlich aus dem Konzept gebracht, als ich sie so gekleidet gesehen hatte. Sie sah wie jemand anders aus, wie eine hübsche junge Frau in einem fast normalen Kostüm. Als sie den Namen auf der Grabplatte entziffert hatte, schlug sie die Hand vor den Mund. »O mein

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