Assassin's Creed: Revelations - Die Offenbarung (German Edition)
selbst als Erster in den mächtigen Turm ein. In der großen Halle blieben sie stehen und blickten hinauf, wo Abbas am Kopf der Mitteltreppe stand. Flankiert wurde er von fehlgeleiteten Assassinen, die ihm die Treue hielten. Speerträger und Bogenschützen säumten die Galerie.
Altaïr musterte sie ruhig. Die abtrünnigen Assassinen erzitterten unter seinem Blick. Aber sie gaben nicht nach.
„Sag deinen Männern, sie sollen aufgeben, Abbas!“, befahl er.
„Niemals! Ich verteidige Masyaf! Würdest du nicht dasselbe tun?“
„Abbas, du hast alles verdorben, wofür wir stehen, und alles verloren, was wir gewonnen haben. Alles hast du auf dem Altar deines eigenen Grolls geopfert.“
„Und du“, entgegnete Abbas keifend, „du hast dein Leben damit vergeudet, in diesen Apfel zu starren und nur von deinem eigenen Ruhm zu träumen.“
Altaïr trat einen Schritt vor. Im gleichen Zug machten auch zwei von Abbas’ Speerträgern einen Schritt nach vorn und schwangen drohend ihre Waffen.
„Abbas, die Wahrheit ist, dass ich viel von dem Apfel gelernt habe. Über das Leben und den Tod, über die Vergangenheit und die Zukunft.“ Er hielt inne. „Ich bedaure es, mein alter Kamerad, aber ich sehe, dass mir keine andere Wahl bleibt, als dir etwas von dem, was ich gelernt habe, zu demonstrieren. Denn nichts anderes wird dich zum Einlenken bewegen. Und du wirst dich jetzt nicht mehr ändern und das Licht schauen, das immer noch auf dich wartet.“
„Tötet die Verräter!“, schrie Abbas nur. „Tötet jeden Einzelnen von ihnen und werft ihre Leichen auf den Misthaufen!“
Abbas’ Männer rührten sich zwar, griffen aber immer noch nicht an. Altaïr wusste, dass es jetzt kein Zurück mehr gab. Er hob den Pistolenarm, ließ die Waffe hervorschnellen, und als sie in seiner Hand landete, zielte er und schoss auf den Mann, der vor siebzig Jahren für kurze Zeit sein bester Freund gewesen war. Abbas wankte unter dem Treffer, ein gleichermaßen überraschter wie ungläubiger Ausdruck trat in seine schrumpeligen Züge. Er keuchte, schwankte, tastete hektisch nach Halt, aber es kam ihm niemand zu Hilfe. Dann fiel er, stürzte sich überschlagend die lange Steintreppe hinunter und blieb schließlich vor Altaïrs Füßen liegen. Der Sturz hatte ihm die Beine gebrochen, sie standen in unnatürlichem Winkel von seinem Körper ab.
Aber er war nicht tot. Noch nicht. Es gelang ihm, sich unter Schmerzen hochzustemmen, weit genug, um den Kopf zu heben und Altaïr in die Augen zu schauen.
„Ich kann dir niemals verzeihen, Altaïr“, brachte er krächzend hervor. „Für die Lügen, die du über meine Familie verbreitet hast, meinen Vater. Für die Demütigungen, die ich erlitten habe.“
Altaïr blickte auf ihn hinab. In seinen Augen stand nur Bedauern. „Das waren keine Lügen, Abbas. Ich war zehn Jahre alt, als dein Vater mich in meiner Kammer aufsuchte. Er weinte und flehte um Vergebung dafür, dass er meine Familie hintergangen hatte.“ Altaïr schwieg kurz. „Dann schnitt er sich selbst die Kehle durch.“
Abbas hielt dem Blick seines Feindes stand, ohne ein Wort zu sprechen. Der Schmerz in seinem Gesicht war der eines Mannes, der sich mit einer Wahrheit konfrontiert sieht, die er nicht ertragen kann.
„Ich war Zeuge, wie sein Leben zu meinen Füßen verebbte“, fuhr Altaïr fort. „Diesen Anblick werde ich nie vergessen.“
Abbas stöhnte gepeinigt auf. „Nein!“
„Aber er war kein Feigling, Abbas. Er gewann seine Ehre zurück.“
Abbas wusste, dass er nicht mehr viel länger zu leben hatte. Das Licht in seinen Augen erlosch bereits, als er sagte: „Ich hoffe, es gibt noch ein Leben nach diesem. Dann werde ich ihn wenigstens wiedersehen und die Wahrheit über seine letzten Tage erfahren … “
Er hustete, die Bewegung schüttelte seinen Körper durch, und als er wieder zu Atem kam und zu sprechen versuchte, drang schon das Rasseln des Todes aus seiner Kehle. Als seine Stimme jedoch zurückkehrte, war sie fest und reuelos.
„Und wenn deine Zeit kommt, o Altaïr, dann, ja, dann werde ich dich finden. Und dann wird es keine Zweifel geben.“
Abbas brach zusammen, sein Körper sackte auf den steinern Boden.
Altaïr stand über ihm in der Stille, die sie umgab, den Kopf gesenkt. Nichts regte sich außer den zuckenden Schatten, die das flackernde Licht der Fackeln warf.
57
Als Ezio zu sich kam, fürchtete er, der Tag könnte bereits angebrochen sein, doch sah er am Himmel im Osten erst ein ganz fahles Rot,
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