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Astragalus

Titel: Astragalus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albertine Sarrazin
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als Erstes diese Geschichten um die Ohren.
    Mimik, Zitate, Auslassungspunkte. Pedro hat seine Soutane am Haken hängen lassen; er trägt Shorts und Unterhemd, dazu Tennisschuhe. Heute früh hat er sich vor dem Kaffee ein Muntermachtraining verordnet, der Einbrecher muss sich geschmeidig halten, schwedische Gymnastik, ächzend und hechelnd, gefolgt von Spülungen und Reinigung im Waschhausbecken.
    Vorbei, mein Herumliegen im Evakostüm! Ein mit Aftershave balsamierter Adam verjagt mich aus dem einzigen Paradies, das ich hatte, dem Waschhaus.
    Pedro steht auf und streckt sich endlos.
    »Gut«, sagt er. »Heute Nachmittag mache ich einen Ausflug in die Hauptstadt. Ein paar Freunde treffen. Brauchen Sie etwas, Anne?«
    Die Hände flach auf der Brust, fest auf die perfekten Säulen seiner Beine gestützt, ist er abstoßend vor Reinheit.
    »Nein, danke … Ach doch, bringen Sie Zeitungen mit, ja?«
    Pedro wird also mein Lektürelieferant. Er liest selbst sehr viel, Bücher, die zu seiner Rolle passen: »Das Tagebuch eines Diebes«, Schlosserhandbücher; und für die Metro das »Lehrbuch der Kriminalistik« von Doktor Locard oder das Gerichtsjournal.
    Pedro hat nämlich genug vom pflichtbewussten oder hoffnungsfrohen »Guten Tag, Pater«, von den Sitzplätzen, die man ihm voller Hochachtung in den öffentlichen Transportmitteln überließ, und der Hitze unter dem langen Rock und hat wieder zivile und sommerliche Kleidung angezogen.
    Mehrmals hintereinander ist er im Morgengrauen nach Hause gekommen. Es muss sich gelohnt haben, denn er wirft sich jetzt jeden Tag neu in Schale. Frisches Hemd, mausgrauer Anzug und passender Filzhut. Aber trotz der Lektüre und der Aktentasche vermutet man in ihm alles andere als einen Unigänger. Sein Studium färbt kein bisschen auf ihn ab, aber seine Finsternis ist hell, hell, hell …
    Wenn er nicht da ist, und auch wenn, nimmt Pierre ihn voller Inbrunst auf die Schippe: »In Vollmondnächten gehen ja deine Blüschen noch durch, aber im Winter entdeckt man dich selbst im dicksten Nebel. Wer sich leuchtet mit dem Hemd, dem ist keine Sünde fremd!«
    Manchmal ruft Julien ihn an, und sie treffen sich irgendwo. Im Morgengrauen kommen sie zusammen zurück. Ich empfange einen Mann mit vor Müdigkeit glänzenden Augen, das Gesicht fleckig von getrocknetem Schweiß, Staub und Bartstoppeln. Dann lässt Pedro seine Gymnastik ausfallen und schläft bis zum Abendessen. Wir beide reden mit der Klarheit der Übermüdung. In solchen Nächten schlafe ich noch weniger.
    Pierre vergisst vorübergehend seine Ironie und schnüffelt in der Beute rum. Dabei könnte er sich ausnahmsweise mal freuen, ohne mich zum Lachen zu bringen: Pedro hat auswärts geschlafen, statt mit seiner Frau.
    Ich bin zufällig darauf gestoßen, und es ist mir ziemlich unangenehm, wie wenn ich im Knast fröhlich den Riegel einer Zelle – pardon, eines Zimmers – zurückschob und zwei Mädchen überraschte, die sich von einer dritten hatten einschließen lassen. Hier wissen Pedro und Nini zum Glück nicht, dass ich weiß, was nichts an meinem Unbehagen ändert, ihnen aber die Möglichkeit gibt, mich weiter unbefangen herzlich oder gleichgültig zu behandeln, anstatt mir den Mund stopfen und mit Honig einschmieren zu müssen.
    An dem Nachmittag verbot die Hitze ein Sonnenbad vor drei oder vier Uhr; Pedro, Nini und ich hatten zum Mittag in frischen, rohen, farbenfrohen Dingen gestochert, das Trinken vermieden und nur einen Drang verspürt: oben im Schatten der Fensterläden zu ruhen. Ich hatte wunderbar geschlafen, ausgestreckt auf dem großen Bett, einen feuchten Waschlappen auf den Zehen, der Gips gründlich mit Eau de Cologne durchtränkt! Um zwei hatte ich Lust bekommen, im Waschhaus zu baden, und war auf meinen Krücken die Treppe hinuntergegangen.
    Durch die lange Übung mit meinen Holzstöcken sind es zwei richtige Beine geworden, leicht und leise; auf meinen Krücken tanze, wirble, schaukele ich, wie diese Hampelmänner zwischen zwei Stäben, die man mehr oder weniger fest zusammendrückt, um den Akrobaten an seinem Faden kreiseln zu lassen. Ich setze meine drei Füße auf, eins, zwei-drei, eins, zwei-drei, geschickt und im Takt. Ich sause die Treppe hinunter, ich hebe die Krücken, um auf dem Absatz die Kurve zu nehmen, und lande im Ballsaal. Eine halbhohe Wand trennt ihn von der Bar. Und in der Ecke dieser Wand steht ein Sofa, ein Halteplatz, auf dem sich die Besucher niederlassen, ein Notlager für die, die kein Zimmer haben;

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