Astragalus
hervor wie eine Sünde. Nini hat fertig abgeräumt. In der Hand einen feuchten Lappen, greift sie die Krümel und Glasränder an, beschmiert den Tisch mit großen Seifenellipsen. Sie beugt sich etwas weiter vor, putzt unsere Plätze, schnappt sich den Aschenbecher und leert ihn in den Mülleimer, stellt ihn wieder hin, geputzt und perfekt in gleichem Abstand zu Pedro und mir. Werden wir ihn jetzt etwa den ganzen Nachmittag mit Kippen und die Küche mit uns füllen? Trotzdem schweigt sie hartnäckig, ist Gastgeberin und gutes Dienstmädchen, lächelt zu Pedros Geläster, bleibt in Bewegung.
Ich frage mich plötzlich, ob sie in Kneipenzeiten nicht mit ihrem Arsch das Trinkgeld aufgebessert hat – natürlich nur auf Bestellung!
Sie sagt, ohne mich anzusehen: »Mit zwanzig sind doch hübsche Brüste ganz normal. Vor allem, wenn man keine Kinder hat.«
Nini hat keine Kinder, aber ich glaube trotzdem nicht, dass sie irgendwann mal Brüste hatte. Wie kann sich Pedro nur ohne Widerwillen am dürren Oberkörper dieses Weibsstücks zu schaffen machen?
»Wenn Sie wollen, ziehe ich den Büstenhalter aus«, sage ich herablassend. »Dann können Sie es besser beurteilen.«
Schließlich bittet Pedro Nini, uns eine Flasche Champagner zu bringen.
»Was ist denn in Sie gefahren? Was wollen Sie mit Champagner?«
»Trinken«, erklärt Pedro. »Wir haben viel geplaudert, das macht Durst. Was meinen Sie, Anne?«
Wenn es ums Picheln geht, bin ich immer dabei. Nini lässt sich herab, den Kühlschrank zu öffnen. Sie wird die Flasche Pedro auf die Rechnung setzen, schließlich ist der Kunde König: Wenn es den Herrschaften gefällt, sich um diese Zeit und bei dieser Hitze volllaufen zu lassen … Mit strenger Miene stellt sie die Flasche und zwei Gläser auf den Tisch, dann kehrt sie zum Abwasch zurück.
»Oh, oh, Nini!«, ruft Pedro.
Dieses vom Südfranzösischen abgeguckte »oh, oh«, das mich ärgert und verwirrt, diese verbalen Rippenstöße, mit denen Pedro jeden Satz würzt … Oh, oh! He! Da! Na!
»Ist unsere Nini böse? Kommen Sie, schenken Sie uns Ihr schönes Lächeln. Holen Sie noch ein Glas und stoßen Sie mit uns an!«
»Ich, trinken? Sie wissen genau, dass ich nicht trinke. Ich darf nicht: mein Herz.«
Die roten Äderchen auf ihren Wangen, die ich dem Wein zugeschrieben hatte, kommen also von einem kranken Herzen. Pedro, Sie werden Ninis kleinem Herzen doch nicht wehtun! Trinken wir zu zweit. Mein Herz kann gefahrlos prickeln.
»Anne, Anne, Sie haben zu viel im Kopf.«
»Wenn man nichts in den Beinen hat!«
Pedro masturbiert geduldig den Korken, der langsam herausgleitet. Peng. Er fliegt in Richtung Glasdach, und der goldgelbe, mit einer Wendung des Handgelenks sofort in den Kelch gelenkte Strom schäumt mit leisem Zischen.
Dieses Ritual liebe ich mehr als den faden Geschmack und die Blasen in der Nase. Glas für Glas leeren wir die Flasche; Nini hat sich angewidert nach oben zurückgezogen.
Je mehr der Schampus meine Glieder wärmt, desto kühler wird mein Kopf. Und Pedros Kopf entfernt sich, beginnt zu schweben. Bald hat der ganze Pedro keine Substanz, keine Bedeutung mehr; er kann ruhig reden und sich bewegen, er stört mich nicht, überhaupt nicht.
Der Kreis um mich ist wieder geschlossen, ich bin allein darin, schön im Zentrum. Die Tangenten ringsum treffen sich und geraten durcheinander. Ich lasse sie fliehen und sich verlaufen, es ist mir egal. Ich höre, ich verstehe, ich antworte. Meine Stimme gluckst vielleicht ein bisschen, aber meine Gedanken vereinheitlichen, klären sich. Alles dreht sich um einen einzigen, starren Satz, einen Satz, den ich anschaue, eine Zuflucht, ein Halt: »Pass bloß auf, Anne …«
Ja, Julien, keine Sorge, der Spaß hält sich in Grenzen.
»Würden Sie mir bitte meine Beine geben, Pedro? Ich bin völlig außerstande, bis zur Wand zu humpeln. Ich habe mir auf Ihre Kosten einen Schwips angetrunken, der nächste geht auf mich … Vorerst ist es wohl am besten, diesen hier im Bett auszukurieren.«
»Kommen Sie, Anne, ich trage Sie …«
»Und heben mich über die Schwelle – nein, danke. Geben Sie mir meine Krücken, ich schaffe es schon, in mein Bett zu kommen.«
Auf dem Halteplatzsofa mache ich Pause … und bleibe da. Zwischen den Lidern sehe ich Pedro in einem goldenen Nebel vor dem Bett auf und ab gehen. Aber womöglich aus Rücksicht auf Nini versucht er nicht, auch dort Halt zu machen.
8
Heute nimmt mich Julien mit.
Im leergeräumten, größer gewordenen
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