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Astragalus

Titel: Astragalus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albertine Sarrazin
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Zimmer suchen wir ständig nach irgendwelchen Sachen an ihrem Platz, den man mit geschlossenen Augen oder ohne Licht fand, bis es uns wieder einfällt: »Mist, ich habe die Toilettensachen ganz unten in die Tasche gesteckt. Borg mir deinen Kamm.«
    Nini wird keine Kippe, kein Ascheatom finden. Der Aschenbecher ist gewaschen, ich habe mit einem Lappen an meiner Krücke unter dem Bett gewischt und ihn dann ganz tief in den Mülleimer gesteckt.
    Ein Gefühl wie die Entlassung aus dem Knast. Julien inspiziert noch einmal den Schrank, versetzt dem Gepäck einen Fußtritt.
    »Ich schaff das runter und schnapp mir dann Pierre, damit er mir mein Zeug zurückgibt, Werkzeug, Wäsche … Ich kreuz hier nicht so bald wieder auf.«
    »Nimm nicht Pedros Schlüssel«, sage ich.
    »Der kann mich mal. Wenn du etwas bescheuerter wärst, wär ich hier voll in die Orgie geraten. Na komm, mein Küken, wir zischen ab.«
    Zur Kaffeezeit sitzen wir immer noch am Marmortisch. Pierre ist herzlich, ziemlich übertrieben. Seit er Julien seine Sachen zurückgegeben hat, weiß er, dass die Vögelchen wirklich ausfliegen.
    »Nini, wenn die Kleine ihren Gips abnehmen lässt, hole ich dich vorher ab; sieht besser aus, wenn ihre Schwester sie begleitet. Kostet dich nur ein paar Stunden.«
    »Sicher, sicher, Julien«, sagt Nini eilig. »Ihr könnt auch am Abend vorher kommen und hier schlafen, damit ihr gleich an Ort und Stelle seid, oder, Pierre? Unsere Tür steht euch immer offen …«
    »Kann sein.« »Mal sehn.« Julien vermeidet einen harten Schnitt. Aber er vergisst nicht, wie er mich gestern Nachmittag vorgefunden hat: Ich hatte den Schlüssel zweimal rumgedreht, krümmte mich im Sessel um meine Wut und vertrieb mir die Langeweile damit, einen verrückten und präzisen Fluchtplan auszuhecken. Sofort war er wieder losgefahren, um meinen neuen Unterschlupf endgültig klarzumachen. Ich werde erwartet, ich weiß noch nicht, von wem, aber ich weiß, wo: in Paris!
    Paris, ich komme zurück, lange vor der Zeit. Hätte nicht weinen müssen, du hattest recht, Cine.
    Im Taxi erklärt mir Julien, dass meine neue Gastgeberin eine »frühere Prostituierte ist, ihr Kerl sitzt in der Santé, und sie lebt allein mit ihrer kleinen Tochter«.
    Annie, Exnutte – Matrone? Püppchen? Ich habe ein bisschen Schiss.
    Nein, sie ist weder das eine noch das andere. Sie ist hässlich, von klarer, eckiger, gepflegter Hässlichkeit: Pferdekopf, klappriger Körper in einem billigen Flitternegligé, große Füße in Hausschuhen, vermutlich elegante Beine. Sie ist so groß wie Julien, und Julien zieht die Schultern ein; man muss schon verlegen dreinschauen, die Lieferung wird immer sperriger. Ich habe Annies Tür nicht wie eine zarte und verletzte Braut überschritten: Ich bin die Treppe ganz allein auf meinen drei Beinen hinaufgestiegen, darauf bedacht, die unbekannten Stufen im Halbdunkel nicht zu verfehlen, hinter Julien, der die Koffer trug. Jetzt liegt mein Gepäck vor dem Herd und versperrt den Durchgang. Wir stehen alle, riesig in diesem winzigen Raum.
    »Kommen Sie, Anne«, sagt Annie, »nehmen Sie doch den Sessel, da sitzen Sie besser. Wollen Sie einen Hocker haben, um Ihren Fuß draufzulegen? Setzen Sie sich doch, Julien! Als wären Sie noch nie hier gewesen … Entschuldigen Sie, ich habe keinen Aperitif. Ich schick Nounouche. Nounouche!«, ruft sie aus dem Fenster. Ihr Oberkörper ist draußen, berührt fast den Baum, den großen Baum, der explosionsartig in dem grauen, erstickten Innenhof hochgeschossen ist.
    Nounouche antwortet nicht.
    »Treibt sich schon wieder auf dem Boulevard rum«, sagt ihre Mutter.
    Julien wühlt in der Strandtasche und zieht eine Flasche hervor, die Freundin meiner Nächte: »Anne hat nur Cognac, aber es ist ja auch erst fünf.«
    Annie holt Gläser, wir stoßen an. Dann zeigt sie mir die Wohnung; wir werden auf engem Raum leben, es gibt nur zwei Zimmer. Vielleicht wird die Enge mehr zur Verständigung beitragen als die Weite des Wirtshauses …
    »Sie schlafen in Nounouches Bett, sie schläft bei mir. Für Ihre Sachen habe ich ein Schrankfach freigemacht, richten Sie sich in Ruhe ein.«
    Ich sitze auf dem Kinderbett, das durch dreißig Zentimeter Gang vom Doppelbett getrennt ist, und lasse mich von Wärme und Unbekümmertheit ergreifen, ehe ich lächelnd zurücksinke. Der Schrank berührt das Fußende meines Betts, das Fenster berührt den Schrank, und um auf den Hof zu sehen, muss man sich zwischen Schrank und Tisch zwängen.
    Ich

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